In Deutschland stehen die Sozialsysteme unter Druck: Wirtschaftsministerin Reiche will gegensteuern und pocht darauf, dass die Lebensarbeitszeit steigt. Aus ihrer eigenen Partei und von Sozialverbänden kommt heftiger Widerspruch.
Schon Bundeskanzler Friedrich Merz hatte in seiner Regierungserklärung eine Debatte um die Arbeitszeit in Deutschland angestoßen: Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance lasse sich der Wohlstand nicht halten, erklärte er. Nun legt Wirtschaftsministerin Katherina Reiche nach. "Wir müssen mehr und länger arbeiten", forderte sie in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
"Der demographische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen", sagte die CDU-Politikerin. Es könne auf Dauer nicht gut gehen, nur zwei Drittel des Erwachsenenlebens zu arbeiten und ein Drittel in der Rente zu verbringen. Leider verweigerten sich zu viele zu lange der demographischen Realität.
Reiche sieht Vereinigte Staaten als Vorbild
Daher müssten Anreize für Frühverrentungen gestoppt werden, sagte Reiche - ohne ausdrücklich ein Ende der vorzeitigen Rente für langjährige Versicherte zu fordern, bekannt unter dem Namen Rente mit 63. Es gebe viele Beschäftigte in körperlich anstrengenden Berufen. Es gebe aber auch viele, die länger arbeiten wollten und könnten.
Allerdings hält Reiche die sozialen Sicherungssysteme bereits jetzt für überlastet. Nach Einschätzung der Wirtschaftsministerin reichen die im Koalitionsvertrag vereinbarten Reformen nicht aus. "Die Kombination aus Lohnnebenkosten, Steuern und Abgaben machen den Faktor Arbeit in Deutschland auf Dauer nicht mehr wettbewerbsfähig", sagte Reiche.
Unternehmen mit US-Standort berichteten, dass deren Beschäftigte in den USA 1.800 Stunden pro Jahr arbeiteten, in Deutschland aber nur 1.340 Stunden, so Reiche. "Im internationalen Vergleich arbeiten die Deutschen im Durchschnitt wenig."
CDA: Keine Grundlage im Koalitionsvertrag
Kritik an den Aussagen kommt vom CDU-Sozialflügel. CDA-Bundesvize Christian Bäumler sieht Reiche als Fremdkörper in der Bundesregierung. Ihre Forderungen hätten keine Grundlage im Koalitionsvertrag. "Wer als Wirtschaftsministerin nicht realisiert, dass Deutschland eine hohe Teilzeitquote und damit eine niedrige durchschnittliche Jahresarbeitszeit hat, ist eine Fehlbesetzung", sagte er.
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) übte ebenfalls Kritik. Durch ein mögliches Credo, dass die Menschen länger arbeiten könnten, dürfe es nicht "zu einer Anhebung des Renteneintrittsalters durch die Hintertür kommen", sagte die SoVD-Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier. Eine Stabilisierung des Rentensystems könne nur eine Erwerbstätigenversicherung bringen, die Beamte und Abgeordnete in die gesetzliche Rente einbeziehe.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte vor einer Erhöhung des Rentenalters. "Für gute Renten muss jetzt auf der Einnahmeseite der Rentenversicherung mehr reinkommen", sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die Mütterrente müssten aus Steuergeldern und nicht aus der Rentenkasse bezahlt werden.
Mit Informationen Hans-Joachim Vieweger, ARD-Hauptstadtstudio
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