Bei der gescheiterten Wahl von Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin sind SPD und Union heftig aneinandergeraten. Hält die Koalition? Die Partner haben eine unterschiedliche Sicht darauf.
Donnerstagnachmittag 17 Uhr. Die SPD-Fraktion kommt zu einer Sonderschalte zusammen. Der Grund: der Rückzug von Verfassungsgerichtskandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Die Fraktion will diskutieren, wie man mit der neuen Situation umgehen soll.
Die SPD ist tief empört. Sie hat das Gefühl, dass eine hochqualifizierte Frau Opfer einer rechten Kampagne geworden ist. Auch die zeitliche Abfolge trägt zum Frust bei der SPD bei. Während die Sozialdemokraten in den vergangenen Tagen immer wieder kommunizierten, man rede mit der Union und werde eine Lösung finden, sagt diese offenbar unabhängig von den Gesprächen mit der SPD der Kandidatin Brosius-Gersdorf ab.
Sie schreibt in ihrer Erklärung: "Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion - öffentlich und nicht-öffentlich - in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist."
Das Vertrauen ist verschwunden
Die Union schafft Fakten, während die SPD noch reden will. In der digitalen Fraktionssitzung gibt es viele Wortmeldungen. Allgemein zeigt sich Ratlosigkeit. Die SPD hat keinen Plan, wie sie aus der Situation wieder herauskommen soll. Die Abgeordneten fragen sich, was die gescheiterte Richterwahl für die weitere Zusammenarbeit mit CDU und CSU bedeutet. Das so wichtige Vertrauen in die Koalitionspartner ist komplett verschwunden.
Auch die Frage, wem man in dieser Situation noch eine mögliche Kandidatur zumuten könne, wird diskutiert. Die Sorge ist groß, dass auch eine neue Kandidatin bei Teilen der Union durchfallen könnte.
Nach der Sitzung verschickt Fraktionschef Matthias Miersch eine Nachricht an die Abgeordneten und auch an die Mitarbeiter der Fraktion. Darin stellt Miersch nochmal klar, die SPD-Fraktion habe weiter hinter Frauke Brosius-Gersdorf gestanden. Sie sei durch eine orchestrierte Kampagne zum Aufgeben bewegt worden. Er bedaure das zutiefst.
Dann aber kommen die entscheidenden Sätze. Es stelle sich eine grundsätzliche Frage: Was seien Absprachen noch wert, was bedeute Verlässlichkeit in einer Koalition? Miersch meint damit, dass die Union zunächst zugesagt hatte, die Kandidatin der SPD zu wählen. Dass sich "zentrale Teile der CDU/CSU-Fraktion am Ende davon distanziert" hätten, erschüttere nicht nur Vertrauen, sondern stelle das Fundament in Frage, auf dem demokratische Zusammenarbeit überhaupt möglich sei.
Die Union will möglichst wenig Aufregung
Der SPD-Fraktionschef setzt ein dickes Fragezeichen hinter den Fortbestand der schwarz-roten Koalition. Sicher, niemand in der SPD hat zu diesem Zeitpunkt ein Interesse, die Koalition platzen zu lassen. Dass der Fraktionschef aber nach noch nicht einmal 100 Tagen gemeinsamer Regierung solche Gedanken zu Papier bringt, ist ein deutliches Warnsignal an die Union: So kann es nicht weitergehen.
Und die Union? Versucht die Aufregung möglichst kleinzuhalten. Bei CDU und CSU gibt es am Donnerstag keine Sonderfraktionssitzung. Fraktionschef Jens Spahn gibt nur eine kurze Pressemitteilung heraus. Der Entscheidung von Frauke Brosius-Gersdorf gelte größter Respekt. Er bedauere, dass "diese Lage auch durch die zu späte Ansprache unserer inhaltlichen Bedenken entstehen konnte". Nun werde man mit dem Koalitionspartner eine gemeinsame Lösung finden.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, Steffen Bilger, schiebt die Verantwortung am Abend in der tagesschau wieder zurück zur SPD. Es sei sicher vieles nicht gut gelaufen, aber die SPD habe auch einen durchaus polarisierenden Vorschlag gemacht. Die Botschaft: Liebe SPD, jetzt kriegt euch mal wieder ein.
Die Führung der Unionsfraktion will weitermachen, sieht in der Krise maximal einen kleinen Betriebsunfall. Sowieso könne die SPD doch bei 13 Prozent im aktuellen ARD-Deutschlandtrend kein Interesse an einer Neuwahl haben.
Stress für die noch junge Koalition
In der SPD sieht man das etwas anders. Ja, die Umfragen seien schlecht, aber wenn die Koalition jetzt in die Brüche ginge, habe man zumindest mit Boris Pistorius den beliebtesten Politiker als möglichen Spitzenkandidaten in der Hinterhand. Schlechter als mit Scholz könne das gar nicht laufen, sagte ein Abgeordneter dem ARD-Hauptstadtstudio.
In diese aufgeheizte Stimmung platzt dann noch eine Meldung. Die CDU-Abgeordnete Saskia Ludwig hat sich offenbar vor einigen Tagen in Ungarn mit der AfD-Chefin Alice Weidel getroffen. Der Tagesspiegel hatte zuerst darüber berichtet. Das Magazin Focus schreibt nun, die beiden hätten sich etwa eine Stunde in einer rund zehnköpfigen Runde getroffen. Dabei soll es auch um eine mögliche Zusammenarbeit gegangen sein, die aber unter dem jetzigen CDU-Chef Friedrich Merz noch nicht möglich sei.
Für die SPD ist das eine weitere Provokation. Die Brandenburger Abgeordnete Ludwig war auch eine der CDU-Abgeordneten, die sich vehement gegen die Wahl von Brosius-Gersdorf ausgesprochen hatten.
Kein freundliches Würstchen Grillen
Als die SPD-Abgeordneten sich zur Fraktionsschalte treffen, ist diese Meldung noch nicht bekannt. Dafür aber eine Einladung der Fraktionsvorsitzenden Spahn, Miersch und von CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann zum gemeinsamen Koalitionsgrillabend Mitte September. Teambildende Maßnahme nennt man das wohl.
Die SPD-Abgeordneten sind weniger begeistert von der Idee. MIndestens eine Abgeordnete sagt das auch offen in der Fraktionsschalte. Die Union mache so einen Blödsinn, und dann solle man mit denen auch noch freundlich Würstchen grillen.
Die schwarz-rote Stimmung ist wirklich nicht gut. Kommende Woche wird die Koalition 100 Tage alt. So viel Stress zu diesem Zeitpunkt war selten.
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