Die steigenden Zahlen von Gewalt an Frauen sind alarmierend. Studien zeigen, dass es sich dabei um ein strukturelles Problem handelt. Betroffene kämpfen für ein gerechteres Miteinander.
Fünf Frauen schreien aus vollem Hals, ihre Fäuste krachen mit voller Wucht auf dicke Gummikissen am Boden. Vor ihnen kniet die 26-jährige Pia Wagner, und feuert sie an. Die Szene wirkt wie ein Befreiungsschlag - und genau das ist sie auch.
Pia ist Überlebende einer gewalttätigen Beziehung. Viele überleben das nicht. Pia hat nach ihrer gewaltvollen Erfahrung selbst die Initiative ergriffen und gibt heute Selbstverteidigungskurse, organisiert zusammen mit einer Freundin einen Wut-Workshop, bei dem die Teilnehmerinnen ihren Emotionen freien Lauf lassen können und berät von Gewalt betroffene Frauen in einer Selbsthilfegruppe.
Die meisten Frauen, die zu Pia kommen, haben eins gemein: Sie sind, sei es physischer oder psychischer, Gewalt ausgesetzt gewesen oder sind es noch. Und damit sind sie nicht allein in Deutschland - das zeigen die Zahlen der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts (BKA).

Pia Wagner ist eine Überlebende von Gewalt - heute hilft sie betroffenen Frauen.
Fast jeden Tag wird eine Frau getötet
An 360 Tagen im Jahr, also fast jeden Tag, wird eine Frau oder ein Mädchen von ihrem (Ex-)Partner oder einem nahen männlichen Familienmitglied in Deutschland getötet. "Die gefährlichste Stelle für Frauen ist nicht der dunkle Park, sondern das eigene Zuhause", sagt die Juristin Carolin Weyand. Sie ist Vorsitzende der Vereinigung Hessischer Strafverteidigerinnen und setzt sich im Vorstand von UN Women Deutschland für Geschlechtergerechtigkeit ein.
Die Juristin findet die steigenden Zahlen zu Gewalttaten an Frauen alarmierend, aber noch alarmierender die Normalität, mit der in jedem Jahr die neuen Zahlen präsentiert werden und das wachsende Ausmaß geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichteter Straftaten.
Zahlen von Gewaltstraftaten an Frauen steigen
Laut Statistik wurden im Jahr 2023 insgesamt 180.715 Frauen oder Mädchen Opfer häuslicher Gewalt, das sind fast 5,6 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Bei Sexualstraftaten wurden 52.330 weibliche Opfer erfasst, was eine Zunahme um 6,2 Prozent zum Vorjahr bedeutet.
Besonders stark steigt die Zahl im Bereich digitaler Gewalt. Von Hass und Hetze im Internet waren 25 Prozent mehr Frauen als im Jahr zuvor betroffen. Studien gehen aber davon aus, dass die Zahlen deutlich höher liegen könnten. Viele Betroffene zeigen die Taten erst gar nicht an.
Gewalt an Frauen ist tief verankert
"Gewalt an Frauen und nicht-binären Personen ist kein importiertes Problem aus anderen Ländern", stellt die Professorin für Soziologie der Diversität, Elisabeth Tuider von der Universität Kassel, klar. Vielmehr sei die Gewalt ein strukturelles Problem, das seinem Ursprung im Patriarchat hat und tief in allen Bereichen unserer Gesellschaft verankert ist.
Patriarchale Werte werden oft über Generationen weitergegeben - durch Lernprozesse, Medien, Schulen sowie das Beobachten und Erleben von Gewalt im Laufe des Lebens. Vergewaltigung in der Ehe zum Beispiel ist erst seit Ende der 1990er-Jahre in Deutschland strafbar.
Gewalt wird nicht nur durch brutale physische Gewalt, zum Beispiel in Form von Schlägen, ausgeübt, sondern auch durch Machtausübung oder Ausbeutung am Arbeitsplatz oder in Form von sexualisierter Gewalt an Volksfesten wie dem Oktoberfest. Studien zeigen, dass etwa jede dritte Frau in Deutschland im Laufe ihres Lebens Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt wird. Dazu zählt auch das sogenannte Catcalling, also anzügliches Hinterherrufen.
Ist unser Rechtssystem sexistisch?
Bis dato ist "Catcalling" in Deutschland noch kein Strafbestand. Das müsse sich ändern, sagt die Juristin Weyand und kritisiert die Rechtsprechung im Allgemeinen: "Wir haben ein frauenfeindliches Sexualstrafrecht aus meiner Sicht. Sexuelle Belästigung ist nur strafbar bei körperlichen Berührungen. Das kann aus meiner Sicht nicht sein, wenn gleichzeitig zum Beispiel Schwarzfahren strafbar ist. Da ist ein Ungleichgewicht."
In Ländern wie Belgien, den Niederlanden oder Spanien ist "Catcalling" ein Strafbestand. Das Bundesjustizministerium lässt auf Nachfrage schriftlich mitteilen, dass man derzeit prüft, "inwieweit der strafrechtliche Schutz für gezielte, offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen erweitert werden kann".
Fußfessel soll Opfer schützen
Allgemein wisse man um den Auftrag, Frauen besser vor Gewalt zu schützen, so Bundesjustizministerin Stefanie Hubig: "Wir dürfen uns an diese brutale Gewalt nicht gewöhnen. Wir müssen häusliche Gewalt entschlossen bekämpfen."
Deshalb sollen zum Beispiel elektronische Fußfesseln dabei helfen, häusliche Gewalt zu verhindern. Nähert sich etwa der Täter, wird das Opfer über ein Empfangsgerät gewarnt. Außerdem will man mit Projekten gegen die steigende digitale Gewalt vorgehen. Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" bietet Frauen zudem rund um die Uhr anonyme und kostenlose Beratung.
Das bundesweite Gewalthilfegesetz, das im Februar 2025 beschlossen wurde, soll außerdem dabei helfen, die Istanbul-Konvention von 2018 umzusetzen - ein völkerrechtliches Abkommen des Europarats, das Staaten verpflichtet, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu bekämpfen.
Doch der Lagebericht zur Überprüfung der Umsetzung aus dem vergangenen Jahr zeigt: Deutschland wird seinen Zielen bis dato nicht gerecht. Er kritisiert unter anderem die unzureichende Finanzierung, strafrechtliche Defizite und Lücken in der Prävention bei Täterarbeit und Opferschutz. Derzeit gibt es 6.000 Frauenhausplätze in Deutschland. Laut der Istanbul-Konvention müssten es 21.000 Plätze sein.
Gleichstellung und Gewalt hängen zusammen
Gewaltausübung ist eng mit Gleichstellung verknüpft. Und die sei in Deutschland, "trotz erreichter Fortschritte noch nicht erreicht", teilt das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Anfrage schriftlich mit. Die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern sei ein zentrales Ziel der gesamten Regierungsarbeit.
Wie dringend das nötig ist, zeigt die Studie Global Gender Gap Report von Juni 2025. Danach hat sich die Zeit bis zur vollständigen globalen Gleichstellung von 99 Jahren, die noch 2020 angenommen wurden, auf sogar 123 Jahre verlängert.
Antifeministische Strömungen und Alpha Männer
Weltweit sei ein Backlash, sprich der Wunsch nach einer Rückkehr zu konservativen Werten und der Vormacht des Mannes, zu beobachten - aus Angst vor Macht- und Kontrollverlust. Rechtsextreme Gruppen befeuern diese Stimmung - auch in Deutschland, wie eine Studie der Heinrich-Böll-Stiftung aus dem Jahr 2024 und eine aktuelle Analyse im Mai 2025 von Forschenden von der Freien Universität Berlin und dem Berliner Institute for Strategic Dialogue zeigen. Frauenfeindlichkeit sei dabei ein zentrales Element.
Antifeministische Strömungen, die Errungenschaften wie Frauenrechte in Frage stellen, aber auch Queerfeindlichkeit erstarken. Auch deutlich sichtbar in den sozialen Netzwerken, wo die "Manosphere" und sogenannte Alpha Males und Incels ein starkes, dominantes Männerbild predigen und Gewalt an Frauen explizit verherrlichen.
Mehr Aufklärung schon in der Schule
Großbritannien hat darauf reagiert und ab dem kommenden Jahr Unterricht gegen Frauenfeindlichkeit an Schulen eingeführt - basierend auf einer Erhebung, wonach 54 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Alter von elf bis 19 Jahren innerhalb einer Woche frauenfeindliche Aussagen erlebt hätten.
Auch in Deutschland hat man diese Problematik erkannt, so das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend: "Erkenntnisse legen nahe, dass auch in Deutschland der schulische Bereich gute Möglichkeiten für Prävention von Frauenfeindlichkeit, beziehungsweise geschlechtsspezifischer Gewalt bietet."
Prävention und Schutzmaßnahmen sind unabdingbar
Für die Soziologin Elisabeth Tuider ist die weitere Ausarbeitung und Umsetzung der bereits jetzt im Bildungsbereich verpflichtenden Schutzkonzepte unbedingt notwendig. Besonders in allen Bereichen der Gesellschaft, an denen es für Frauen und marginalisierte Gruppen gefährlich werden kann.
Aber auch Intervention hebt Tuider hervor: Nicht wegsehen und endlich die rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen. Gewalt müsse als gesellschaftliches Problem und nicht als Einzelschicksal thematisiert werden.
Es müsse eine Sensibilität für Themen wie emotionale, psychische, verbale, körperliche, aber auch digitale Gewalt in der Gesellschaft geben. Prävention und Empowerment seien unabdingbar: "Empowerment bedeutet, Handlungsfähigkeit zurückzugeben - das Recht, 'Nein' zu sagen und gehört zu werden, aber auch das Recht 'Ja' zu sagen. Es geht um nichts Geringeres als um das höchstpersönliche Recht auf Selbstbestimmung einer jeden Person, und das Leben frei von Gewalt", so Tuider.
Der Kampf für ein gerechteres Miteinander
Juristin Carolin Weyand hat Hoffnung - auch als Mutter von Mädchen - wenn sie Frauen in ihrem Umfeld, aber besonders in der jüngeren Generation betrachtet. "Die Frauen haben ein viel klareres Bild von sich selbst und von ihrem Standpunkt, von Gleichberechtigung und sie lassen sich viel weniger gefallen."
Weibliche Wut, so wie es die Frauen im Wut-Workshop oder den Selbstverteidigungskursen von Pia Wagner zeigen, sei "ein ganz wichtiger Motor - auch für Veränderung. Nicht für den Kampf 'Mann gegen Frau' oder 'Frau gegen Mann', sondern für den Kampf für ein gemeinsames, gerechteres Miteinander."
Die Doku "Close Up - Ich will Frauen stark machen" ist in der ARD-Mediathek abrufbar und wird am 25. September um 22 Uhr im hr gezeigt.
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