Die East Side Gallery zieht sich mitten durch Berlin. Dort, wo früher Menschen erschossen wurden, bestaunen heute Millionen Besucher die Kunst auf Beton. Nach 35 Jahren hat die Galerie ihren einst spontanen Charakter verloren.
An der Mühlenstraße direkt an der Spree, zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke, bleiben Touristen stehen, zücken Handys, betrachten die farbigen Mauerreste. Ein Paar aus München wirkt ratlos: "Es sieht gar nicht so historisch aus", sagt der Mann. Seine Begleiterin ergänzt: "Für mich ist das alles sehr weit weg, ich sollte mal wieder eine Doku sehen, ich weiß zu wenig."
So geht es vielen, die hier vorbeikommen. Für manche ist die East Side Gallery ein Fotomotiv, für andere ein schwer greifbares Relikt. Und doch bleibt sie einer der Orte, an denen Berliner Geschichte am stärksten spürbar wird. Ohne die Bemalungen stünden die Mauerreste heute womöglich nicht mehr.
Vom Provisorium zum Denkmal
Am 28. September 1990, vor 35 Jahren, wurde die East Side Gallery eröffnet. 118 Künstlerinnen und Künstler aus 21 Ländern bemalten den auch damals schon längsten noch erhaltenen Mauerabschnitt, der sich über 1,3 Kilometer erstreckt. Eigentlich war das Projekt nur für ein halbes Jahr geplant. Doch schon 1991 wurde die Galerie unter Denkmalschutz gestellt.

Eines der bekanntesten Kunstwerke der east Side Gallery: Der Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker.
Weil die ursprünglich nur provisorisch aufgetragenen Farben abblätterten, folgte 2009 eine umfassende Sanierung: Viele Werke wurden neu aufgetragen und mit einem Schutz gegen Verwitterung und zum leichteren Entfernen von Graffiti versehen. Deshalb wirken berühmte Motive wie der "Bruderkuss" von Dmitri Wrubel oder der durchbrechende Trabi von Birgit Kinder bis heute wie frisch gemalt.

Ein Trabi für die Freiheit: Birgit Kinder bemalt einen Teil der Berliner Mauer.
Was ohne Sanierung aus den Bildern geworden wäre, lässt sich an einem unbehandelten Mauerabschnitt gut sehen: Dort ist das Mauerwerk porös, die Farben sind verblasst, von den Bildern keine Spur mehr.
Bilder mit Botschaft
Die Galerie ist nicht nur bunt, sie ist auch politisch. "Die Beständigkeit der Ignoranz" nennt Karsten Wenzel sein Werk: Ein gesichtsloser Herrscher im Königsmantel, Kopfform und Brillenumriss deuten Erich Honecker an. "Mächtige entfremden sich vom Volk - das wiederholt sich in der Geschichte, leider auch heute noch", sagt der Künstler.

Das Werk von Karsten Wenzel warnt vor den Folgen einer Entfremdung vom Volk.
Auch Kani Alavis "Es geschah im November" prägt die Galerie: Eine Menschenmasse, die durch die Mauer drängt. Der Maler, der 1938 im Iran geboren wurde und seit den 1970er-Jahren in Deutschland lebt, wollte den Moment des Mauerfalls festhalten - die Freude und die Euphorie, die Sorgen, die Mischung aus Glück und Unsicherheit. "Ich habe über 800 Gesichter gemalt, jedes mit eigenem Ausdruck", erzählt er. Er wohnte zu dem Zeitpunkt am Checkpoint Charlie, hat die von Ost nach West strömenden Menschen somit aus nächster Nähe erlebt.

Aus nächster Nähe beobachtete Alavi die Euphorie nach dem Mauerfall - und hielt sie auf den Mauerresten fest.
Alavi ist nicht nur Künstler, sondern auch Aktivist. Er gründete die Initiative zum Erhalt der East Side Gallery, deren Vorsitzender er ist. Sein unermüdlicher Einsatz hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Galerie unter Denkmalschutz gestellt wurde. Nach wie vor kämpft er gegen die fortwährenden Bedrohungen durch Investoren, die das Gelände mit dem Mauerabschnitt oder zumindest Teile davon kommerziell nutzen wollen. Offiziell verantwortet die landeseigene Stiftung Berliner Mauer seit 2018 die East Side Gallery.
Die Sanierung 2009 - ein kontroverses Thema
Trotz des Engagements vieler Künstler gab es 2009 auch kontroverse Stimmen: Einige Urheber der Originalbilder lehnten die Sanierung ab oder wollten sich nicht an der Neuerstellung ihrer Werke beteiligen - aus unterschiedlichen Gründen: Einige Künstler befürchteten, dass durch das Übermalen die Authentizität und der ursprüngliche Ausdruck ihrer Arbeiten verloren gehen könnten. Andere kritisierten, dass nicht alle Urheber ausreichend in den Prozess eingebunden wurden. Wiederum andere fanden, dass durch die Erneuerung der Bilder der authentische, spontane Charakter der Galerie verloren gehen könnte - schließlich waren die Werke ursprünglich als temporäre Kunst entstanden, nicht als Denkmal.
Nicht zuletzt waren 2009 auch bereits einige der ursprünglich 118 Künstlerinnen und Künstler verstorben. Dies alles führte dazu, dass nicht alle Bilder der Galerie erneuert wurden, einige 1990 bemalte Flächen sind heute frei.
Eine Galerie, die vom Zusammenwachsen erzählt
Jährlich kommen Millionen Besucher aus aller Welt hierher: aus Europa, den USA, China oder Australien. Manche sehen die East Side Gallery als Mahnmal, andere denken über ihre eigene Gegenwart nach. Ein Besucher aus Rumänien sagt: "Früher starben Menschen beim Versuch, von Ost nach West zu gelangen - heute spazieren wir hier alle friedlich entlang." So erzählt die East Side Gallery nicht nur von deutscher Teilung, sondern auch von Veränderung und Zusammenwachsen.
Die 1,3 Kilometer Mauerreste stehen frei zugänglich am Spreeufer - ohne Zaun, ohne Eintritt. Das macht ihre Wirkung besonders: Wer hier entlang läuft, begegnet Geschichte. Und zugleich einem Gesamtkunstwerk mitten in der Stadt. 35 Jahre nach ihrer Eröffnung bleibt die East Side Gallery damit ein Denkmal, das mahnt, erinnert - und zeigt, wie Kunst Vergangenheit lebendig halten kann.
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