Deutschland soll sich verändern. Dafür will der Kanzler den Menschen etwas zumuten. Doch sein "Herbst der Reformen" steckt fest. Ihm gelingt es weder seine Koalition mitzunehmen - noch die Bürger.
Ein Ruck ist noch nicht durch Deutschland gegangen, als Friedrich Merz zum ersten Mal als Bundeskanzler am Tisch von Caren Miosga Platz nimmt. Ein solcher Ruck war aus dem Umfeld des Kanzlers in Aussicht gestellt worden. Doch zu spüren ist davon wenig.
Seine Rede zum Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in Saarbrücken? Mehr Appell als Vision, heißt es in den Kommentaren der Zeitungen. Kanzler Merz habe sich zwischen Zumutung und Zutrauen bewegt. Seine Kernbotschaft: "Wir müssen heute begreifen: Vieles muss sich ändern, wenn vieles so gut bleiben oder gar besser werden soll, wie es in unserem Land bisher ist."
Die Floskel benutzt er inzwischen nicht mehr
Vieles müsse sich ändern, die Merz-Regierung wolle es anpacken, betont der Kanzler. Bei Miosga verweist er auf 40 Seiten Kabinettsbeschlüsse zur Digitalisierung, auf die sinkenden Migrationszahlen, auf die Staatsmodernisierung. Doch der Wirtschaftsaufschwung lässt auf sich warten, ebenso wie drängende Reformen in den Sozialsystemen.
Im Frühjahr, mit Beginn seiner Kanzlerschaft, hatte Merz eine Stimmungsaufhellung für den Sommer versprochen, nach der Sommerpause dann einen "Herbst der Reformen". Diese Floskel benutzt er inzwischen nicht mehr.
Wie will der Kanzler die Erwartungen erfüllen, die er selbst geweckt hat? Caren Miosga stellt die Frage, die Deutschland bewegt: "Wann kommt denn die Reform?" Und Merz fragt zurück: "Ja, welche meinen Sie?"
Merz schiebt es auf den Zollstreit - und die Weltlage
Da kann man ja auch schon mal den Überblick verlieren: vom Bürgergeld über die Rente, Krankenversicherung, Pflege bis hin zu Wehrdienst und Digitalisierung - es gibt viel zu tun, aber vor allem bei den Sozialreformen ist noch kein Land in Sicht.
Liegt es am falschen Erwartungsmanagement? Merz hat offenbar die Frage erwartet und kann sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Aber er räumt ein, es dauere etwas länger, als man sich das erhofft habe. Verantwortlich für die Stimmung im Land macht Merz die Weltlage, den Zollstreit mit den USA im Sommer, die misslungene Verfassungsrichterwahl. So weit, so bekannt.
Keine Selbstzweifel - auch nicht beim Umgang mit der SPD
Merz nennt sich selbst Antreiber in der Koalition und Vermittler gegenüber der Bevölkerung. Er versucht zu zeigen, dass er die Nöte der SPD versteht. Seine Botschaft: "CDU pur" sei vorbei. Er spreche jetzt nicht mehr für die CDU allein, sondern für eine Koalitionsregierung aus CDU, CSU und SPD. Regieren sei ein Kompromiss.
Unter dem Strich bleibt nach Caren Miosga der Eindruck: Selbstzweifel hat Merz' Wechsel vom Oppositionschef ins Kanzleramt nicht ausgelöst.
Auch bei der Debatte über den Wehrdienst präsentiert sich der Kanzler selbstbewusst. Während Verteidigungsminister Boris Pistorius auf ein Freiwilligenmodell setzen möchte, vertagte die Unionsfraktion die Entscheidung - was für neue Aufregung in der schwarz-roten Koalition sorgt.
Bei Miosga will Merz davon nichts wissen: "Die Verschiebung der Bundestagsdebatte wurde gemeinsam mit der SPD beschlossen." Der Kanzler schiebt eine Spitze in Richtung Pistorius nach: "Es kann sein, dass er die internen Vorgänge im Parlament nicht so mitbekommen hat." Klingt so ein friedlicher, konstruktiver "Herbst der Reformen"?
Bei der Gerechtigkeit bleibt es ruhig
Zu den Sozialreformen macht der Kanzler eine klare Ansage: "Unsere Bevölkerung wird für Rente, für Altersversorgung, unsere Bevölkerung wird für die Gesundheit, und unsere Bevölkerung wird für die Pflege in Zukunft mehr vom verfügbaren Einkommen aufwenden müssen, aber es muss gerecht zugehen", sagt der Kanzler. "Die Bevölkerung muss das Gefühl haben, dass daran alle mitwirken. Und deswegen ist das eine größere Aufgabe, der wir uns ernsthaft stellen."
Fest steht: Ohne die Bevölkerung geht es nicht. Sie mitzunehmen, gelingt dem Kanzler nicht so recht. Wie schon am Einheitstag fällt es Merz um einiges schwerer, Zuversicht auszustrahlen als Zumutungen auszusprechen.
Wie kann sich Deutschland reformieren? Und wie kann das gerecht geschehen? Das erklärt er nicht. Manch einer dürfte sich da eben nicht mitgenommen fühlen. Und einen Ruck hält der Kanzler auch nicht für nötig - jedenfalls sei der 3. Oktober kein guter Anlass für so eine Rede gewesen.
Wo bleibt das Emotionale?
Ausgerechnet der Gast aus Frankreich, Präsident Emmanuel Macron, hat aus Sicht vieler Beobachter am 3. Oktober in Saarbrücken eine leidenschaftliche, aufrüttelnde, mitreißende Rede gehalten. Da kann Merz noch so sehr betonen, dass es ihm nicht an Mut fehlt.
Obwohl Merz mehr kommuniziert als sein Vorgänger, der SPD-Kanzler Olaf Scholz, und auch mal spontan reagiert, fehlt auch ihm bislang ein emotionaler Zugang. Dabei zeigt sich bei Miosga ein Schlüssel, den der Kanzler nutzen könnte.
Es geht um die Tränen, die Merz bei seiner Rede in der Münchner Synagoge Mitte September gekommen sind. Damals erinnerte Merz an die Frage eines jüdischen Mädchens, das wissen wollte, warum den Juden denn niemand geholfen habe. Bei der Antwort stockte Merz' Stimme.
Ein Appell ohne Gefühle
Was war der Auslöser? War es das Thema Kinder, das ihn so berührt hatte? Wieder wirkt Merz angefasst: "Ja, Frau Miosga, das hat was damit zu tun. Weil ich es schwer ertragen kann über das Leid von Kindern zu sprechen." Er ergänzt: "Ich bin seit 1998 der erste Bundeskanzler, der eigene Kinder hat. Und das prägt auch mein politisches Arbeiten."
Von hier aus wäre es eigentlich nicht mehr weit bis zu einer emotionaleren Ansprache an diejenigen, auf die es bei den geplanten Reformen der Bundesregierung ankommt: die Menschen in Deutschland. Aber den Ton hat Bundeskanzler Merz bislang nicht angeschlagen - auf eine Ruck-Rede wartet Deutschland weiter.
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