Sie stellt die Klimaziele Deutschlands indirekt infrage und betont, wie wichtig Gaskraftwerke seien: Die neue Wirtschaftsministerin Reiche sorgt für Diskussionen. Gibt es nun eine Kehrtwende in der Energiepolitik?
Einer der ersten Sätze von Katherina Reiche als neue Wirtschaftsministerin hatte es in sich. "Ich möchte Ihnen danken für Ihre fast übermenschliche Leistung, die Sie in diesen Tagen, Wochen und Monaten vollbracht haben", sagte Reiche über Robert Habeck bei der Amtsübergabe am 6. Mai.
Lob für den Vorgänger bei dessen Abschied - verständlich. Doch die Überschwänglichkeit, mit der eine CDU-Frau ausgerechnet über den in konservativen Kreisen so gescholtenen Grünen Habeck sprach, überraschte. War die CDU dabei, grüne Politik für sich zu entdecken?
Reiche betont die Kosten der Energiewende
Rund 50 Tage später ist klar: Nein, war sie nicht. Katherina Reiche - 51 Jahre alt, zuletzt mehr als fünf Jahre Chefin des Energieunternehmens Westenergie und davor Hauptgeschäftsführerin beim Verband kommunaler Unternehmen - fährt im Wirtschafts- und Energieministerium einen anderen Kurs als ihr Vorgänger.
Hielt Habeck bei einer Pressekonferenz noch ein Plakat in die Kameras, das den Zuwachs der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch zeigte, betont Reiche jetzt die Kosten der Energiewende. Den Satz "Die Sonne schickt keine Rechnung", werde man von ihr nicht hören: "Der ist ja so bekloppt wie simpel", sagte sie beim Tag der Industrie. "Das kann man sich nur ausdenken, wenn man von Energie keine Ahnung hat."
Grüne sehen ihre Errungenschaften in Gefahr
Reiche geht bisweilen sogar weiter als der Koalitionsvertrag von Union und SPD. Deutschlands Ziel, bis 2045 klimaneutral zu werden, stellt sie indirekt infrage: "Eine Harmonisierung mit internationalen Zielen täte gut", sagt sie.
Die Grünen sehen ihre Errungenschaften in Gefahr. "Auf einmal werden Ziele wieder infrage gestellt, zu denen sich die neue und die Vorgängerregierung verpflichtet haben", sagt Michael Kellner. Er saß unter Habeck als parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium. Heute ist er energiepolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion. "Das führt zu großen Verunsicherungen auch in den Branchen, woran man jetzt eigentlich mit dieser Regierung ist."
Reiche will den "Realitätscheck" beim Strombedarf
Woran also ist man bei Katherina Reiche? Noch liegen keine Gesetzentwürfe vor. Klar ist aber schon jetzt: Man ist nicht mehr dort, wo man noch mit Habeck war.
Die Neuausrichtung zeigt sich unter anderem bei der Frage, wie viel Strom Deutschland überhaupt brauchen wird. Reiche will das bis Ende des Sommers überprüfen lassen. Sie nennt es "Realitätscheck". Die Vermutung dahinter: Der bisher erwartete Strombedarf ist zu hoch berechnet, die Ausbaupläne für erneuerbare Energien und damit für die nötigen Netze sind zu groß.
Unterstützung aus der Industrie
Die Industrie hält die bisherigen Ausbaupläne schon länger für zu ambitioniert: "Es ist als habe eine junge Familie mit 24 Kindern geplant, dafür ein Hotel und einen Reisebus zu kaufen", sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Holger Lösch. "Am Ende kommt man aber nur bei vier Kindern raus."
Der Zubau, der vielleicht gar nicht nötig sei, mache das ganze System teuer. Und zwar für private Haushalte wie für Unternehmen, die das bei der Stromrechnung merken: Die sogenannten Netzentgelte steigen. So sehr, dass die Bundesregierung sie mittlerweile deckelt.
Befürchtungen, dass Ausbau ins Stocken gerät
Die Klima-Organisation Agora Energiewende lässt das Kostenargument nicht gelten und verweist auf entsprechende Studien: "Der Börsenstrompreis sinkt durch die Erneuerbaren um ein Viertel bis 2030, wenn wir weiter an den Ausbauzielen festhalten", sagt der Agora-Stromexperte Philipp Godron. Er fürchtet, dass der Ausbau von Erneuerbaren und Infrastruktur jetzt verlangsamt wird durch die aktuelle Diskussion.
Auch die Energiebranche hätte an einer Kehrtwende kein Interesse: Langfristig müssten die Ausbauziele klar sein, sagt die Geschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, Kerstin Andreae, einst Abgeordnete der Grünen im Bundestag. Ein Monitoring, wie es Reiche plant, begrüße man grundsätzlich: "Aber es muss auch klar sein, dass wir als Branche sehr lange Investitions- und Planungszeiträume haben." Soll heißen: Die erneuerbaren Energien müssten weiter im Zentrum der Stromversorgung stehen, so Andreae. Einen Richtungswechsel will sie bislang aber auch gar nicht erkennen.
Gaskraftwerke - mit oder ohne Umstellung auf grünen Wasserstoff?
Einig sind sich Wirtschaft, Klimaschützer und die neue Ministerin zumindest so weit: Deutschland braucht Gaskraftwerke als Back-up für sogenannte Dunkelflauten, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind kaum weht. Gaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von bis zu 20 Gigawatt will die Bundesregierung deshalb bauen.
Auch Reiches Vorgänger Habeck hatte Gaskraftwerke geplant, brachte seinen Gesetzesentwurf aber nach dem Bruch der Ampelkoalition nicht mehr durch den Bundestag. Doch die Pläne von Reiche und Habeck unterscheiden sich, betont Michael Kellner von den Grünen: "Robert Habeck hatte damals vorgeschlagen, deutlich weniger Gaskraftwerke zu bauen, verbunden mit einer Umstellung auf grünen Wasserstoff. Katharina Reiche aber redet über diese Umstellung nicht."
Energiebranche fordert Tempo beim Gaskraftwerk-Bau
Die Energiebranche pocht unterdessen auf mehr Tempo beim Bau der Gaskraftwerke: "Für uns drängt die Zeit", sagt Andreae vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und verweist auf die Bauzeit von rund sechs Jahren. "Da stehen die Unternehmen in den Startlöchern. Da warten wir auf Entscheidungen der Politik, sowohl im Bund als auch auf europäischer Ebene, damit das jetzt wirklich schnell vorangeht."
Wie schnell, wird Wirtschaftsministerin Katherina Reiche noch zeigen müssen. Wirtschafts- wie Umweltverbände sind gespannt, wie die konkreten Gesetzentwürfe am Ende aussehen werden.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.