Es war ein ganz normaler Abend Mitte Juni: Ich lag im Bett und konnte mit dem linken Auge nur den unteren Teil des Bildes sehen. Alles darüber war von einem schwarzen Vorhang verdeckt. Ich dachte, meine Augen wären müde, und hoffte auf die heilsame Wirkung des Schlafs.
Als ich aufwachte, hatte der Schlaf nicht geholfen. Ich ging zu meinem Hausarzt und bekam eine Überweisung in die Augenklinik. „Man sieht ein Loch“, erklärte der Mediziner dort. „Wenn Sie nicht so schnell wie möglich operiert werden, werden Sie erblinden.“ Ich traute meinen Ohren nicht und brach in Tränen aus. Ich weinte laut und unbeholfen, geschockt und vor lauter Schreck, in diese Situation geraten zu sein.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind in guten Händen“, beruhigte mich der Arzt. „Wenn Sie schnell operiert werden, kann das Auge gerettet werden. Solche Operationen werden an den Unikliniken durchgeführt. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung, fahren Sie sofort hin“. Oft hat der Satz „Sie sind in guten Händen“ nur eine formal beruhigende Wirkung. Doch im Fall der deutschen Medizin und Gesundheitsversorgung ist es wirklich so. Ich schwöre auf mein Auge.
Das Gebäude der Augenklinik Tübingen war offenbar erst gerade renoviert worden. Die Krankenzimmer ähnelten Zimmern in Vier-Sterne-Hotels; durch automatische Vorhänge an den Fenstern ließ sich das Sonnenlicht regulieren. Ich aß Rote-Bete-Salat und Spaghetti Bolognese, und eine Krankenschwester aus der Nachtschicht erschien wie eine Fee und lud mein Telefon auf, während ich schlief.
Mit mir auf der Station war ein 89-jähriger Deutscher, der schon zwei Augenoperationen hinter sich hatte. Er aß mit gutem Appetit und ging oft spazieren, um zu fotografieren. In Russland, wo ich die längste Zeit meines Lebens verbracht habe, spazieren 89-Jährige, so sie noch spazieren, ins Grab. Die durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer liegt bei gerade mal 68 Jahren.
Der Kreml verspricht, dass die statistische Lebenserwartung in Russland bis 2030 auf 78 Jahre steigen wird. Wladimir Putin wird dann genauso alt sein, und der Kreml vermutet da vermutlich sakrale Bezüge: Je länger und gesünder der Präsident lebt, desto länger lebt auch sein Volk. Aber Putin wird, wie man hört, auch von Ärzten umschwärmt; es soll sogar jemanden geben, der Putins Fäkalien bei Auslandsreisen in Koffern abtransportiert, damit keine fremde Macht etwas über seinen Gesundheitszustand und mögliche Behandlungen in Erfahrung bringen kann. Mein Kindheitsfreund Alexander hingegen, der an Multipler Sklerose leidet, musste ins Krankenhaus kriechen.
Eine integrierte Pflegeversicherung gibt es in Russland übrigens nicht. Behinderte Menschen und Pflegebedürftige kommen entweder irgendwie selbst klar oder stellen auf eigene Kosten Pflegekräfte ein. Eine meiner größten Ängste ist, eines Tages unbemerkt in meiner Wohnung zu sterben, Verwesungsgeruch zu verbreiten und erst gefunden zu werden, wenn es bei den Nachbarn unter mir von der Decke tropft. Von so was liest man in russischen Medien oft.
Russlands Prominenz hat es natürlich besser. Der russische Sänger und Putin-Unterstützer Nikolaj Rastorgujew wurde in Nürnberg behandelt. Der russische Propagandist Wladimir Pozner wurde in Deutschland vom Prostatakrebs geheilt. Der Bankier Oleg Tinkow unterzog sich einer Chemotherapie in einer Berliner Klinik. In Tübingen wurde meine Augenoperation von einem Oberarzt durchgeführt, und am nächsten Tag war der schwarze Vorhang vor meinem linken Auge verschwunden. Ich sah noch ein wenig verschwommen, aber ich kam mir vor wie der Sohn eines Oligarchen.
Ivan Ruslyannikov, geboren 1994, hat in Jekaterinburg Journalismus studiert. Im Jahr 2022 hat er Russland verlassen. Für den Text „Yandex – ein Techunternehmen kreiert Zombies“ erhielt Ruslyannikov gemeinsam mit Journalistin Adrienne Fichter den Zürcher Journalistenpreis 2023.
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