1. Listen stehen an der Wiege der menschlichen Kultur. Die ersten Schriftquellen in den Stadtstaaten Mesopotamiens – verfasst vor gut 5000 Jahren in Piktogrammen oder Keilschrift auf Tontafeln – sind landwirtschaftliche Listen und Aufzeichnungen für eine frühe Art der Buchführung. Und jeder kennt das Wort aus der Weihnachtsgeschichte nach Lukas: „Es geschah aber in jenen Tagen, dass Kaiser Augustus den Befehl erließ, den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen.“
Listen sind quasi Heilige Schriften, Kulturstoff pur. Nur: Heute sind diese sinnvollen Listen mit Lebensmitteln (vulgo Einkaufszettel) oder Vermögens-Aufstellungen (wichtig im Scheidungsfall) leider in den Bereich von Rezension und Kritik eingedrungen. Darauf wären nicht einmal die alten Sumerer gekommen.
2. Heute kann man etwa „Die besten Stephen-King-Filme“, „Die schönsten Songs von Fleetwood Mac“ oder „Die besten Sketche von Saturday Night Live“ in Listenform kennenlernen, und da diese Listen auch noch in Form einer Hitparade, also „gerankt“ auftreten und 20, 30 oder mehr Filme, Songs, Bücher, Comedy-Stunts oder Opern enthält, beginnt die Liste der „besten“ Filme eben mit den allerschlechtesten, bis sie sich zum Favoriten hocharbeitet. So wird die Würdigung zur Herabwürdigung.
Ob Mozart oder Madonna – beide haben auch ganz schlimme Platten gemacht, was wir aber eigentlich gern vergessen hätten. Durch die Würdigung der besten Werke „aller Zeiten“ kann man dem ohnehin grassierenden Retroisierung der Kultur weiter Vorschub leisten. Alles ist gegenwärtig, und sei es als Listenplatz in einer endlosen Parade.
3. Die Liste erleichtert das Lesen, das macht sie in Zeiten von kurzen Social-Media-Aufmerksamkeitsspannen zur beliebten Form auch in klassischen Medien. Muss man nicht ganz lesen, kann man auch gleich vorspulen oder skippen. Der Übergang vom rezensorischen Essay zur Liste entspricht dem historischen Bruch von der Vinyl-LP, die man durchhören musste, zur CD, in der man Songs einfach überspringen konnte. Das Lesen wird zum Abgrasen von Stichpunkten, bei denen es auf den einzelnen nicht mehr ankommt. Bullet Points werden zu Bullshit Points.
4. Erleichtert wird aber auch das Schreiben, was diese Liste hier selbst auf Schönste demonstriert. Vor allem wird an Gedankenarbeit gespart: Wie die Einzelpunkte zusammenhängen, ob sie sich nicht sogar widersprechen oder einfach nur unverbunden hintereinanderstehen, das muss der Autor nicht bedenken. Statt System und Hierarchie eine Folge von Gedankenblitzen. Pointe folgt auf Pointe. Rhetorik triumphiert über Stringenz.
5. Kürt man die besten Alben des Jahres oder die schönsten Bücher des Herbstes, kann man sich die Mühe sparen, unterschiedliche Stile, Genres und Konzepte überhaupt miteinander in Beziehung zu setzen, Trends und Tendenzen zu erkennen, ästhetische Innovationen von der ewigen Wiederkehr bewährter Erfolgsmuster zu scheiden.
In der Liste kann alles gleich gut oder gleich zeitgemäß sein. Es ist nicht nötig zu begründen, warum Platz 2 denn nicht auf Platz 1 steht. Gerade das scheinbar Spreu vom Weizen trennende Ranking macht so begründete ästhetische Wertungen überflüssig.
6. Listen sind per se die Form purer Subjektivität. Listenschreiber können anders als Rezensenten oder Essayisten alle Argumentationen weglassen. Das ist ein bisschen wie bei philosophischen Köpfen, die statt eines Systems Aphorismen verfassen. In Listenform ist alles erlaubt, das Anekdötchen, das komplett idiosynkratische Geschmacksurteil, die pure Behauptung. Wer Widerspruch einlegen will, der soll erst mal den nächsten Punkt lesen.
7. Immer wieder beliebt ist die Jahresendliste, wahrscheinlich erstmals im Radio erprobt, wo die ohnehin wöchentlichen Hitparaden, sei es nach Verkaufszahlen von Media Control oder die „Hörercharts“, einfach zu Weihnachten und Silvester in eine Gesamtjahreswertung eingingen. Aus der Popmusik ging die Jahresliste in die Literaturkritik über, hier in Form von „Geschenkempfehlungen“ zu Weihnachten. Inzwischen kann man sich im Dezember (oft auch schon im November) nicht retten vor Best-of, die schönsten Filme, alle Serien, die man in diesem Jahr nicht hätten verpassen sollen. Dass auch im Dezember vielleicht noch neue Werke erscheinen, wird dann zur Nebensache. Wer zu spät kommt, den bestraft die Liste.
8. Schon die Jahresendlistenblüte erzeugt ein schreckliches Gefühl von FOMO (Fear of missing out) und damit eine schier nicht zu erledigende To-do-Liste für die Zeit „zwischen den Jahren“. Längst aber wuchert der Listen-Wahn vom Winter in die anderen Jahreszeiten zurück, in denen man noch weniger Zeit hat, Nichtgelesenes, Nichtgehörtes, Nichtgesehenes im Binge-Modus nachzuholen.
Natürlich gibt es Listen speziell für den Sommer: Bücher für den Strand, Sommerhits fürs Auto etc., aber längst auch Alternativen für die Regentage, ganze Serienstaffeln schon im Juli. Man bekommt schon ein schlechtes Gewissen, wenn man einfach nur am Strand döst, ohne die Romane des Frühjahrs abzuarbeiten. Überall nur unerledigte Arbeit, vor der man doch gerade fliehen wollte.
9. Der neueste Auswuchs dieser Verlistung des Kulturlebens ist die vorläufige Bilanz. So kann man gerade in diesem Tagen auf sämtlichen Musikmagazinen die „Best Albums of 2025 – so far“ nachlesen, so als würde es eine virtuelle Dauerbestenliste geben, die ständig angepasst wird. Natürlich gibt es auch die „vorläufig“ besten Filme, Serien oder Romane des Jahres, die man also – wahrscheinlich – unbedingt gesehen haben muss. Wenn nicht von August bis Dezember noch mehrere viel bessere Filme, Serien und Romane herauskommen, die die Favoriten des ersten Halbjahrs alt aussehen lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir im Februar von den spannendsten Horrormovies und den lesenswertesten Biografien des Jahres erfahren werden – so far.
10. Die Liste wird dennoch nicht aufzuhalten sein. Wahrscheinlich gab es schon bei den alten Sumerern schlecht gelaunte Kulturkritiker, die in der Einführung von Listen von eingelagertem Getreide eine Abkehr vom altbewährten Prinzip des Von-der-Hand-in-den-Mund-Lebens erkannten. Die Liste hat womöglich ihren Aufstieg zur Kunstform noch vor sich. Oder besser: ihren Wiederaufstieg. Denn in Form des Manifests war sie schon einmal die Form der Stunde, von Luthers 95 Thesen zu Wittenberg bis zum „Futuristischen Manifest“ Marinettis. Oder bei Walter Benjamin, der ebenfalls ein genialer Meister der Thesen in Listenform. Allen manischen Best-of-Listenschreibern von heute sei also am Ende gesagt: Einfach mehr Manifest wagen. Dann ist die Liste doch noch nicht der Schlusspunkt des Abendlandes.
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