Was im internationalen Sprachgebrauch als „Yiddish Studies“ bezeichnet wird, heißt im Deutschen Jiddistik. Seine Forschungszentren hat das Fach an den Universitäten in Trier und Düsseldorf sowie an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Dass es in Deutschland gelehrt wird, hat symbolische Bedeutung weit über die Grenzen der Akademie hinaus.

Jiddisch wird heute kaum noch gesprochen. Nur ultraorthodoxe Juden verwenden es im Alltag, weil sie das Hebräische, die Sprache ihres Gottesdienstes, nicht profanieren wollen. Die meisten ultraorthodoxen Juden leben in Israel und in Amerika, aber dort isolieren sie sich wie in einem Getto und schneiden damit auch ihre Alltagssprache von der Umwelt ab. 

Einst war Jiddisch die Sprache der Ostjuden. So nannte man in Deutschland die großen jüdischen Gemeinden, die jahrhundertelang ihre weitgehend autonome Kultur in Osteuropa entwickelt hatten, bevor sie im Zweiten Weltkrieg von den Nazis vernichtet wurden. Deshalb ist Jiddisch heute eine tote Sprache, und zwar nicht nur im linguistischen Sinn wie das Lateinische, sondern auf einer tragischen, existenziellen Ebene: Das Jiddische ist tot, weil seine Sprecher tot sind. 

Deshalb ist gerade der deutsche Beitrag zur Erforschung dieser untergegangenen Kultur von besonderer Bedeutung. Eine jetzt abgeschlossene Buchreihe bezeugt in zehn Bänden die Fruchtbarkeit der deutschen Jiddistik. Eingeleitet wird sie von einem Sammelband, der den Reichtum des Faches belegt. In vier Abteilungen („Lesarten moderner Literatur“, „Älteres Jiddisch“, „Sprachwissenschaft“, „Kultur und Politik“) stellen 33 Forscher und Forscherinnen aus Europa, Amerika und Israel ihre Arbeiten vor. Eine gute Einführung ist der Beitrag von Aya Elyada, in dem die Jerusalemer Forscherin eine kurze Geschichte deutscher Übersetzungen aus dem Jiddischen gibt, wie sie seit fünf Jahrhunderten vorgenommen werden. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es in Deutschland immer ein gewisses Interesse für das „Jüdische“ gegeben. Klezmermusik und Sammlungen jüdischer Witze deckten Bedürfnisse, in denen Schuldgefühle und ihre Verdrängungen schwer auseinanderzuhalten waren und einem Verständnis der jiddischen Kultur eher im Weg standen. Die Buchreihe dagegen besticht nicht nur durch ihre wissenschaftlichen Analysen, sondern auch durch das reiche Quellenmaterial, das in ihr gesammelt ist. 

Nicht nur für Jiddischsprecher

Zur Tragik des Jiddischen gehört es, dass es heute nur noch wenigen Menschen zugänglich ist, und deshalb kann die Reihe nicht auf ein großes Zielpublikum zugeschnitten sein. Einige der Bände sind nur für Leser bestimmt, die die Sprache beherrschen, etwa eine umfangreiche Einführung in Grammatik und Phonetik des Jiddischen, sowie zwei literarische Anthologien. Die eine enthält 62 Kurzgeschichten teils bekannter, teils weniger bekannter Autorinnen und Autoren, einen reichen Querschnitt jiddischer Prosa im 20. Jahrhundert mit all seinen Umbrüchen. Die zweite Anthologie bietet die Metatexte dazu: eine Sammlung von Essays, die zumeist in weit verstreuten, schwer erreichbaren Zeitschriften erschienen sind und hier konzentriert vorgelegt werden. Sie dokumentieren die vielfältigen Debatten, die jiddische Intellektuelle über eine Literatur führten, die in einem Nirgendwo am Rand des Abgrunds entstand. Darüber wird am Ende noch etwas zu sagen sein, aber zuvor seien zwei Bände genannt, die dem deutschen Leser besonders zu empfehlen sind (hier ein Link zum PDF-Flyer der ganzen Edition).

Scholem Alejchems „Eisenbahngeschichten“ – ein Spätwerk, das kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien – werden in Band 3 der Edition zweisprachig gebracht, im jiddischen Original und auf Deutsch. Meist assoziiert man den berühmten Autor mit dem Schtetl, und sein Roman „Tewje, der Milchmann“ wurde auch als nostalgisches Musical vermarktet. Tewjes Geschichten über seine Töchter und ihre Schicksale erzählen jedoch vom Niedergang einer Familie, der das Ende der ostjüdischen Kultur bereits vorwegnimmt, und nur der Humor Scholem Alejchems verdeckte die dunkle Seite seines Werkes.

Das zeitgenössische Publikum suchte bei ihm einen Trost, den er in Wirklichkeit nicht bot. Der Milchmann vertrieb seine Ware noch mit Pferd und Wagen, in den Eisenbahngeschichten aber, die ein Handelsreisender auf seinen Fahrten hört, weicht die alte und vermeintlich gute Zeit einer entfremdeten Moderne. Die Leser mochten dieses Spätwerk nicht, und selbst von der Kritik wurde es lange unterschätzt. Der vorliegenden Ausgabe ist jetzt ein ausführlicher Essay des israelischen Literaturwissenschaftlers Dan Miron beigegeben, der die Geschichten tief und vielschichtig deutet.

Der zweite Band der Edition bietet eine große Auswahl der Gedichte Avrom Sutzkevers. Sie erscheint ebenfalls zweisprachig, aber da die Buchreihe sich auch an eine internationale Leserschaft wendet, sind die Übersetzungen sowie die Begleittexte hier auf Englisch. Sie vermitteln Sutzkevers Werk sehr überzeugend und geben einen guten Einblick in die Hintergründe seiner Poetik.

Sutzkever ist einer der bedeutendsten jiddischen Dichter des 20. Jahrhunderts, und seine Tiefe gewinnt das Werk aus den Umständen des Lebens, denen es abgerungen ist. Eingeleitet wird der Band von einem sehr lesenswerten Vortrag, in dem er selbst über die Hintergründe seines Werkes spricht und das eindrucksvoll an einigen seiner Gedichte demonstriert. 

Seine Poetik erwächst aus dem Urtrauma des Wilnaer Gettos, wo er nicht nur als Partisan gegen die Nazis kämpfte, sondern auch zahlreiche jüdische Kulturgüter vor der Vernichtung bewahrte. Selbst später ist er ein Widerstandskämpfer geblieben – nach dem Krieg kam er nach Israel und hat dort weiterhin Jiddisch geschrieben, obwohl die Zionisten in der Sprache ein Symbol des Exils sahen und sie zu unterdrücken suchten.

Scholem Alejchem und Avrom Sutzkever repräsentieren die beiden letzten Phasen einer Kultur, die ihrem Ende entgegenging. Als im Ersten Weltkrieg die Welt auseinanderbrach, in der die Ostjuden jahrhundertelang gelebt hatten, verloren sie ihre geistige Heimat. Aber noch immer schufen die Träger dieser Kultur ihre Werke, und der Begriff „Jiddischland“ kam in Umlauf: ein imaginärer Ort, der den Namen einer Sprache trug. Efrat Gal-Ed hat einen schönen Aufsatz über diesen Begriff geschrieben. Er ist in einem Band erschienen, der europäische Utopien vorstellt, denn auch „Jiddischland“ konnte nur eine Utopie bleiben. Aber Utopien können sehr fruchtbar sein, das belegt diese Buchreihe auf vielfältige Weise. Gal-Ed, Professorin für Jiddistik an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, ist führend an der Herausgabe der Reihe beteiligt. Sie ist auch als Künstlerin tätig und hat den Bänden eine visuell sehr ansprechende Form gegeben.

Jiddistik. Edition & Forschung. 10 Bände. Herausgegeben von Efrat Gal-Ed, Roland Gruschka und Simon Neuberg. De Gruyter, pro Band 39,95 Euro

Jakob Hessing ist emeritierter Germanistik-Professor der Hebräischen Universität Jerusalem. 2020 erschien sein Buch „Der jiddische Witz. Eine vergnügliche Geschichte“ (C.H. Beck).

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