Der Historiker Karl Schlögel, oft als „Mahner gegen Putin“ bezeichnet, erhält den Friedenspreis des deutschen Buchhandels – eine gute Nachricht. Dabei ist es immer zweischneidig, einen Intellektuellen als Mahner zu bezeichnen; oft ist „Mahner“ eine Chiffre für einen, der mehr redet als genau denkt, unter deutschen Intellektuellen gibt es einschlägige Beispiele. Schlögels Fall ist anders. Auf geradezu paradigmatische Weise lässt sich an dieser Figur und deren Denkbewegungen ablesen, was ein Intellektueller sein kann, wozu er fähig und gesellschaftlich wichtig ist, wenn jahrzehntealte Gewissheiten in sich zusammenfallen – wie der, die bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 galt: dass in Europa Frieden herrscht.
Schlögel, 1948 geboren, forscht seit seinem Studium der Philosophie, Soziologie, osteuropäischen Geschichte und Slavistik, das er 1969 an der Freien Universität Berlin begann und ihn zeitweilig hinter den Eisernen Vorhang nach Moskau führte, über Russland; heute ist er einer der profiliertesten Kenner Osteuropas. In seinen Werken, die als akademische, aber gut lesbare Sachbücher vielfach ausgezeichnet worden sind, verbindet er „detailreiche Alltagsbeobachtungen mit einer raumbezogenen Geschichtsschreibung“, wie es in der Begründung des Börsenvereins des deutschen Buchhandels heißt: Schlögel habe mit Werken wie „Terror und Traum“ oder „Das sowjetische Jahrhundert“ Maßstäbe für eine anschauliche, lebendige Geschichtsschreibung gesetzt.
Ein weiterer Schwerpunkt seines Schaffens ist die Geschichte der Emigration, das Schicksal der russischen Juden und die Entwicklung der Intelligenzija im 19. und 20. Jahrhundert. Dass Schlögel die West-Berliner Studentenbewegung und ein dezidiert linkes akademisches Milieu geprägt haben (er selbst war zeitweise in der KPD aktiv), gehört zu dieser Biografie; nicht als Malus, sondern als ein Nerv in der Physiognomie dieses Denkens.
Deutlich und kompromisslos
Nach der Annexion der Krim durch Russland begann der Historiker Schlögel seine Stimme als Intellektueller zu nutzen: Als einer der Ersten warnte er vor der aggressiven Expansionspolitik Putins und seinem autoritär-nationalistischen Machtanspruch.
Ohne eine freie Ukraine kann es keinen Frieden in Europa geben, die Ukraine müsse um der Zukunft Europas willen verteidigt werden, so Schlögels seit 2022 oft wiederholte Mahnung. In Gesprächen positionierte er sich deutlich und kompromisslos. Putin teste, wie weit er gehen könne und versuche etwa die AfD und BSW zu instrumentalisieren, die willige Opfer seien, auch das Telefonat des damaligen Bundeskanzlers Scholz mit Putin verurteilte Schlögel als wahltaktisches Manöver eines Mannes, der sich als Friedenskanzler habe positionieren wollen. Putin wolle nichts als die „Unterwerfung“ der Ukraine und setze auf die „Kriegsmüdigkeit“ des Westens.
Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels ist kaum fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet worden; 1950 wurde er zum ersten Mal verliehen, in Anlehnung an Immanuel Kants „Zum ewigen Frieden“, ausgezeichnet wurden Schriftsteller und Intellektuelle wie Susan Sontag, Saul Friedländer, Jürgen Habermas, Fritz Stern, Václav Havel, Nelly Sachs.
Der Börsenverein des deutschen Buchhandels, der den mit 25.000 Euro dotierten Preis über seinen Stiftungsrat vergibt, listet auf seiner Website alle Preisträger auf, gebündelt in Dekaden, denen kurze Kapitelüberschriften voranstehen. Die Jahre 2000 (Assia Djebar) bis 2009 (Claudio Magris) erscheinen so als „Die globalisierte Welt“, 2010 (David Grossman) bis 2019 (Sebastio Salgado) als die „Menschenrechte im digitalen Zeitalter“.
Für die Jahre 2020 (Amartya Sen) bis 2029 ist bisher nur der Platzhalter „Das aktuelle Jahrzehnt“ vorhanden. Unter welchem Rubrum die Zwanzigerjahre stehen werden, ist noch offen. Sollten sie irgendwann als „Vorkriegszeit“ gelten, wäre der Preisträger Karl Schlögel einer der Ersten, die nicht einfach nur gemahnt, sondern kompromisslos gewarnt haben.
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