Ein braun eingebundener, unscheinbarer Folio aus Pergament, vor 600 Jahren bestimmt als Gebet- und Kalenderverzeichnis für den persönlichen Gebrauch eines Fürsten, geschmückt mit den schönsten Miniaturen von höfischen Festen, ritterlichen Ausritten, bäuerlichen Feldarbeiten und reihenweise Schlössern wie aus dem Märchenland. Die „Très Riches Heures du duc de Berry“ kennt wegen der millionenfach reproduzierten Minigemälde fast jeder; das Original indes hat beinahe niemand je gesehen, schon gar nicht die wundervollen Kalenderblätter, die sonst im streng verwahrten Zauberbildband versteckt sind. Das edelste Buch der Welt, so schrieb noch vor ein paar Jahren die „New York Times“, sei zugleich auch das geheimste und unzugänglichste.

Nun ist alles anders. Anlässlich einer gründlichen Restaurierung und wissenschaftlichen Durchleuchtung des Stundenbuches wurden die Blätter mit den unschätzbaren Kunstwerken auseinandergenommen und sind dort zu sehen, wo die Pergamente vor über 150 Jahren landeten und seither diesen Ort per testamentarischer Verfügung nicht mehr verlassen dürfen. Allein schon, weil diese Jahrtausendkunst im Original so gut wie unsichtbar war – es gab vereinzelte Ausstellungen mit immer nur einer sichtbaren Seite – und zu unseren Lebzeiten ganz sicher niemals mehr gezeigt werden wird, ist eine Pilgerfahrt zum Schloss von Chantilly, nördlich von Paris, bis in den Oktober 2025 Pflicht für alle Liebhaber mittelalterlicher Kunst.

Das Halbrund der Vitrinen, in denen raffiniertes Unterlicht noch das kleinste Detail der ungefähr Din-A-4-großen Blätter ausleuchtet, wirkt in der einstigen Ballspielhalle des Schlosses wie die Apsis einer Kathedrale beim Festgottesdienst. Obwohl dies ein Jahrhundertereignis ist, geht es staunenswert ruhig und gesittet zu. Vor der vergleichsweise banalen „Mona Lisa“ im Louvre rangeln sich die Massen; vor den Wunderwerken der Gebrüder Van Lymborch haben Individualisten zwanzig Zentimeter vor den Gemälden alle Zeit der Welt.

Es geht um die zwölf ikonischen Monatsbilder in recto und verso, dazu noch das Christgeburt- und Dreikönigsgemälde des aufgeklappten Stundenbuches. Allein die intensiven Pigmentfarben, oft aus sündteurem Lapislazuli, strahlen wie gestern vollendet und leuchten auf der Netzhaut wie in einem gar nicht so „fernen Spiegel“, als welchen Barbara Tuchman in ihrem Klassiker das späte Mittelalter im höfischen Frankreich evoziert hat.

Kein Gemäldezyklus jener Zeit, nicht einmal die Tafelbilder Jan van Eycks, wurde gründlicher untersucht und gedeutet als dieser Reigen einer gewollt paradiesischen Weltsicht. Wir wissen, dass der pelzbemützte Mann mit der Mopsnase, welcher im Januarbild an festlicher Tafel hohe Geistliche und Ritter empfängt, niemand anderes ist als der Herzog von Berry, Sohn, Bruder und Onkel von drei französischen Königen und fanatischer Kunstmäzen in der ansonsten eher grausigen Epoche des Hundertjährigen Krieges. Er hat in den Monatsbildern sein Leben mit der Hochzeit seiner Töchter, seinen Festen und seinem Landleben festhalten lassen.

Während Frankreichs im Ehrenkodex verblendete Ritterheere eine Schlacht nach der anderen im Pfeilhagel britischer Bogenschützen verloren und das reichste Land der Christenheit Eroberung und Plünderung auslieferten, schuf sich der langlebige und schwerreiche Feudalprinz Jean de Berry sein Zauberfrankreich mit einem Kranz von Lustschlössern, das er dann als alter Mann in diesem Bilderzyklus durchblättern konnte.

Seine hoch bezahlten Hausmaler, drei junge Künstler namens Paul, Herman und Johan van Lymborch, waren noch vor ihrem 20. Geburtstag über einen ebenfalls malenden Onkel, Johan Maelwel, an den Hof des prachtliebenden Herzogs von Burgund gekommen. Nach dem Tod dieses Philipp, genannt „der Kühne“ im Jahr 1404, übernahm die drei Wunderknaben eben genannter Herzog von Berry, der sein erheiratetes und ererbtes Kleinreich in der Mitte und im Westen Frankreichs mit einer erlesenen Kunstsammlung zu adeln suchte.

Über die folgenden zehn Jahre entstanden mehrere unschätzbar kostbare Gebetbücher, die man sich als Trophäen luxuriöser Frömmigkeit vorstellen muss, mit deren exquisiten Ausmalungen sich die Hochadligen seinerzeit gegenseitig zu übertrumpfen suchten. Als wäre die Darbietung der Monatsbilder noch nicht Sensation genug, haben die Kuratoren von Chantilly erstmals nach über 600 Jahren alle wichtigen dieser Vorgängerbände zusammengebracht. Diese Schatzkammer spätmittelalterlicher Malerei aus Paris, London, New York, Berlin, Brüssel, Los Angeles, Mailand wird komplettiert mit Tafelbildern des künstlerischen Ziehvaters Maelwel, dessen Name auf Niederländisch eigentlich nur die Begabung dieser Sippe aus dem Herzogtum Geldern umschreibt: „Mal gut“. Später in Paris und Dijon französisierte man das zu „Malouel“, wie auch die drei Lymborchs heute zumeist als „Gebrüder Limbourg“ bekannt sind.

Was das legendärste Stundenbuch des Herzogs über feine Vorgängerwerke wie die „Petites Heures“, die „Belles Heures“ und sogar die „Très Belles Heures“ hinauswachsen lässt, sind zum ersten die Formate: Bis zu ihrem Hauptwerk exzellierten die Lymborchs in wahrhaftigen Mini-Miniaturen – das Fachwort hat übrigens nichts mit „klein“, sondern mit der roten Mennige-Farbe der Maler zu tun, die im lateinischen Wort „miniare“ (kolorieren) steckt.

Hier bereits müssen dem mäzenatischen Herzog angesichts der Feinheit der wie gemeißelten Körper, der Detailfreude von dargestellten Tieren, Alltagsgegenständen und vor allem der aufgetürmten Architektur die Augen übergegangen sein. Für das Abschlusswerk der Sammlung, scheint der Duc de Berry seinen Malern dann empfohlen zu haben, einfach mal eine ganze Seite mit ihren wie stillgezauberten Landschaftspanoramen zu füllen.

Der Vergleich mit den Vorgängerwerken in benachbarten Vitrinen zeigt, dass die Maler trotz des größeren Formates konsequent ihr Heil im Detail suchten. Selbst unter einer Lupe, unter welcher gewiss die Originale entstanden, kann man beliebig weit heranzoomen, und es tun sich immer neue optische Wunder auf: Eine fingernagelgroße Bauernfigur offenbart sich als Vogelscheuche aus Stroh mit Schlapphut auf einem Stock. Stecknadelkleine Krähen und Elstern, die nach Körnern picken, sind mit einem Einhaarpinsel bis ins gescheckte Gefieder korrekt wiedergegeben.

Dazu kommen Alltagsdetails aus dem Landleben: breitrandige Hüte gegen die Sonnenglut bei der Ernte; bunt kostümierte Jäger mit Hifthorn, die eine blutgierige Hundemeute vom waidwunden Wildschwein wegzerren; und natürlich das ikonisch gewordene Bauernpaar, das in der Winterkälte seine Kittel am Herdfeuer lüpft und dabei beide ihr Geschlecht entblößen. Als das „Time Magazine“ 1948 die Monatsminiaturen millionenfach verbreitete, wurde dieses Detail keusch wegretuschiert.

Verblüffendes Nachleben in der Massenkultur

Die Schlösser, die fast alle dem Herzog oder wenigstens engen Verwandten gehörten, und von denen eines auf jedem Gemälde prangt, lassen sich über Bauforschung konkreten Prachtbauten wie dem Louvre, dem Château Vincennes oder dem Lieblingssitz des Herzog im idyllischen Mehun-sur-Yèvre zuordnen. Heute steht davon nur hier und da ein Türmchen, am ehesten noch in Saumur an der Loire, das mit dem zugehörigen Lymborch-Bild lange Tourismuswerbung machte.

Überhaupt ist das Nachleben dieser Ikonen in der Massenkultur verblüffend. Nachdem bereits Chronisten des Herzogs die Bilder als die schönsten der Welt bezeichnet hatten, riss die Bewunderung niemals ab, seit sie in den 1850er-Jahren beim Erwerb durch einen superreichen Adligen, den Herzog von Aumale, aus genuesischem Besitz wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerieten.

Während dieser Henri d’Orléans um seine Bücherschätze das Schloss Chantilly neomittelalterlich im Lymborch-Stil herumbaute und sich lebenslang allein vorbehielt, die Blätter für Gäste aufzublättern, machten sich nach seinem Tod rund um 1900 Reproduzierer daran, die Wunder zu verbreiten: als Kupferstiche, als frühe Fotoreproduktionen auf kolorierten Glasplatten, später dann mit allen Methoden moderner Faksimiles. Diese Abbildungen, so gestand Umberto Eco, hätten ihn ins Mittelalter förmlich hereingezogen. Und sie wurden mit Postern, Briefmarken und sogar einem Film von Marcel Carné zu Sinnbildern eines rural verklärten Frankreich.

Da war es nur folgerichtig, dass um 1990 sogar die britische Comedyfigur Mr. Bean in einem Sketch mit seinem Ungeschick die „Très Riches Heures“ zerstört. Und im Geburtshaus der Künstler zu Nijmegen am Rhein gibt es inzwischen sogar ein eigenes Museum, das alles über die Malersippe Maelwel präsentieren kann – außer Originalwerken.

Schon für den Herzog von Aumale hatte dieses Zauberbuch eine Lebenswende gebracht. Als Abkömmling des Hauses Orléans und Sohn des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe wurde er zweimal von der Republik ins Exil verbannt, doch konnte er durch die Stiftung der Bücher- und Kunstschätze ans Vaterland, allen voran des Lymborch-Stundenbuches, Begnadigung erlangen und durfte wieder in der Heimat residieren. Seit seinem Tod 1897 gehört alles dem Institut de France, welches zufällig heute seinen Sitz an der Seine gegenüber vom Louvre hat – genau am selben Ort, wo ab 1411 die Lymborchs in der Stadresidenz ihres Herzogs an den Miniaturen werkelten.

Mit dem Tod des Mäzens war auch die Zeit von Herman, Paul und Johan van Lymborchs zuende. Kein anderer Gönner konnte die Genies für neue Wunderwerke verpflichten, denn sie starben wie der Duc de Berry alle drei innert weniger Monate an der Pest, noch vor ihrem 30. Geburtstag. Und das große Stundenbuch blieb unvollendet, wanderte zur Tilgung der Schulden offenbar sogleich in den Handel.

Nie wird man erfahren, wie die Aufgabenverteilung der Künstler verlief. Es sieht nach der Wertschätzung in den Dokumenten so aus, als sei Paul der Hauptmaler gewesen; der Herzog verschaffte ihm mittels dubiosen Kinderraubs sogar eine reiche Heirat, ein gerade einmal achtjähriges Mädchen.

Gut möglich, dass die Brüder sich das lukrative Gewerbe werkstattsweise aufteilten: ein organisierender Manager, ein aus dem Goldschmiedehandwerk stammender Vergolder und Vorzeichner und einer für die Farben. Wer weiß?

Allerdings konnte die Analyse der Bilder anlässlich der Restaurierung allerhand dunkle Mythen beleuchten und Missverständnisse klären. Röntgen- und Infrarotaufnahmen führen jetzt die akkuraten Vorzeichnungen und winzigsten Schraffuren vor, die später sorgsam koloriert wurden. Die mühselige Händescheidung, die immer neue Meister als Mitarbeiter herausschälte, lässt sich mit diesen Mikrofotos, die im hervorragenden Katalog bis in hundertfache Vergrößerung gehen, weiter vervollkommnen. Einen Jean Colombe nimmt man als Spezialist für ziselierte Buchstaben und Grotesken am Rand an; den Elsässer Haincelin de Hagenau, der nach 1420 die prächtigsten Stundenbücher fertigte, hält man für einen Werkstattmitarbeiter.

Idyllische Bilder aus einer apokalyptischen Zeit

Und Barthélemy van Eyck, Cousin des großen Jan in Brügge, ist sogar urkundlich belegt: Dieser Hofmaler von König René von der Provence vervollständigte auf einer Reise 1446 drei unvollendete Monatsbilder für März, Oktober und September und fügte Neuerungen dabei aus der flämischen Werkstatt hinzu, Wasserspiegelungen, Schlagschatten und neue Kleidermode. Das hatte man schon länger angenommen, doch dass Barthélemy sich nach über 30 Jahren respektvoll exakt an die fertigen Vorzeichnungen der Lymborchs hielt und damit einem archaischen Historismus frönte, steht nun erst fest.

Der alte Herzog von Berry, der am Ende vor lauter Gewalt kaum mehr seinen Pariser Stadtpalast verlassen konnte, erlebte die Vollendung seines den Frieden feiernden Lebensbuches nicht. Seine Biografie war geprägt vom Hundertjährigen Krieg gegen England, der ab der französischen Schlachtenkatastrophe von Poitiers 1356 in einen Guerillakampf mit Volksaufständen, Hungersnöten, Seuchen, Fürstenmorden und schließlich in einen blutigen Bürgerkrieg überging, in dem nur der wahnsinnige König Charles VI., tobend und gefesselt im Kerker, das allgemeine Sterben dreißig Jahre lang wie ein Gespenst überlebte.

Ein paar Monate vor ihrem Tod mussten der 76-jährige Herzog und seine niederländischen Maler noch die Schlacht von Azincourt zur Kenntnis nehmen, die Frankreich vollends an den Abgrund trieb und den Nährboden bildete für das Lebensdrama der Johanna von Orléans.

Eine apokalyptische Zeit also bildet den Rahmen für jene überirdisch idyllischen Kalenderblätter . Der Historiker Johan Huizinga schrieb dem „Herbst des Mittelalters“ einen „Geruch von Blut und Rosen“ zu, wobei der Herzog von Berry seine drei Lymborchs als Hüter von ästhetischen Wundergärten anstellte, die uns bis heute hinwegtrösten über eine Umwelt aus nie abflauender Gewalt, Verzweiflung und Not. Doch ein paar Sekunden vor den „Très Riches Heures“, wenn sie auch niemals wiederkehren, wiegen Vieles auf.

Bis 5. Oktober 2025 im Château de Chantilly, der Katalog kostet 59 Euro

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