Bevor der Vorspann eines Films in der Cinematheque beginnt, erscheint eine Texttafel auf der Leinwand, auf der in Englisch steht: „Achtung! Wenn eine Sirene ertönt, verlassen Sie das Kino bitte durch die Tür mit dem beleuchteten ‚Ausgang‘-Schild und gehen in den Schutzraum. Folgen Sie den Anweisungen des Personals, damit Ihre Sicherheit gewährleistet ist. Viel Vergnügen mit dem Film.“ Dies ist keine theoretische Warnung beim Filmfestival in Jerusalem. Dies ist tägliche Praxis.

Das Jerusalem Film Festival ist das wichtigste Filmereignis in Israel, jetzt schon in der 42. Auflage. Die war alles andere als sicher. Drei Wochen zuvor, als iranische Raketen auf Israel regneten, verschickte es eine Mitteilung, es wolle weiterhin zum geplanten Zeitpunkt stattfinden, könne dies aber auf Grund der Sicherheitslage nicht sicher sagen. Das JFF ist wahrscheinlich das gefährdetste Festival der Welt, nicht nur durch Bomben und Raketen.

Man kann das anhand des Films erzählen, für den es so gut wie unmöglich war, Karten zu bekommen, so heiß war das Publikum darauf. „Yes“ (hebräischer Titel: „Ken“) ist der neue Film von Nadav Lapid, seit seinem Berlinale-Gewinn vor sechs Jahren mit „Synonymes“ der weltweit sichtbarste israelische Regisseur. „Yes“ ist eine wilde Satire auf das Israel nach dem 7. Oktober, auf eine Elite, die jeglichen moralischen Kompass verloren hat, auf hemmungslosen Nationalismus und kriecherisches Anpassertum.

Ein Pianist, der die herrschende Klasse auf deren Partys unterhält, bekommt von einem eingewanderten russischen Oligarchen den Auftrag, eine neue Nationalhymne für das kriegerische Israel und seinen Gaza-Feldzug zu schreiben, und er tut das: „In one year there will be nothing left living there/And we’ll return safely to our homes/We’ll annihilate them all/And return to plow our fields.“ (In einem Jahr wird dort nichts Lebendiges mehr sein/Und wir werden sicher in unsere Heime zurückkehren/Wir werden sie alle auslöschen/Und wieder unsere Felder pflügen)

Lapids Film ist völlig zügellos, rücksichtslos und jenseits aller Grenzen des guten Geschmacks. Aber was bleibt, wenn die Lage in dieser Weltgegend komplett zügellos, rücksichtslos und hoffnungslos ist? Lapis vorhergegangener Film „Ahed’s Knee“ gewann den Preis der Jury in Cannes, und der noch wesentlich radikalere, von Fantasie nur so sprühende „Yes“ gehörte dort auch in den Wettbewerb und hätte durchaus die Palme gewinnen können. Genau davor scheint das Festival Angst gehabt zu haben, und laut einer Vermutung im Nachrichtenmagazin „Nouvel Observateur“ bestand die Cannes-Chefin Iris Knobloch – Tochter von Charlotte, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München – darauf, „Yes“ in die Nebenreihe „Quinzaine“ abzuschieben, spät im Festival, als die Hälfte der Kritiker schon nicht mehr da war.

Politischer Druck per Brief

Der Ruf von Lapids Film hatte sich natürlich in seiner Heimat verbreitet, wo immer mal wieder Druck von der rechtsnationalen Regierung auf die unbotmäßige Kulturszene ausgeübt wird. In diesem Fall beschwerte sich ein Vize-Minister aus dem Büro von Ministerpräsident Netanjahus: Es sei eine Schande, dass das Festival „Yes“ zeigen wolle, der eine einzige Anklage gegen Israel sei. Offensichtlich hatte der Minister den Film nicht gesehen, denn es gibt darin auch einen achtminütigen, zutiefst berührenden Monolog, in dem eine Frau von den Schrecken erzählt, die sie am 7. Oktober 2023 erlebt hat. In einem Brief wurde verlangt, die Vorführung zu streichen, „was wir“, sagt Festival-Chef Roni Mahadav-Levin, „selbstverständlich nicht getan haben, denn wir bewerten Filme nicht nach ihrem politischen Standpunkt.“

Als nächstes schickte das Kulturministerium einen Brief und zitierte ein Uraltgesetz aus der Zeit der britischen Besetzung Palästinas, wonach jeder öffentlich gezeigte Film vorher von einem Komitee gesehen werden müsse, zwecks Festlegung einer Altersfreigabe. Das jedoch gelte, so Madahav-Levin, nur für kommerzielle Filme. Voriges Jahr habe das Kulturministerium unter dem Druck rechter Gruppen versucht, diese Regel auf Festivals auszudehnen. Das Komitee bekam die Rechtsauskunft, Festivals seien ausgenommen; erst wenn „Yes“ regulär ins Kino komme, brauche er eine Freigabe.

Das hindert rechte Aktivisten nicht daran, Vorstellungen zu stören. Bei der Premiere von „Yes“ steht nach einer Viertelstunde ein Mann auf, schmäht den Film und lässt sich ohne großen Widerstand nach draußen führen. Shai Glick ist in der Kulturszene berüchtigt, weil er die Programme von Veranstaltungen nach Schlüsselworten durchsucht – „israelisch-palästinensischer Konflikt“, „Gaza“, etc.- und dann die Beteiligten mit Briefen und Auftritten unter Druck setzt. Der palästinensische Filmemacher Rami Younis sollte bei dem Festival-Panel „Meinungsfreiheit und Kreativität in Israel heute“ teilnehmen, zog aber zurück, als er Drohungen aus rechten Kreisen erhielt, darunter vom Vize-Bürgermeister Jerusalems und von Shai Glick, die dann bei dem Panel stören und unter gegenseitigem Geschrei aus dem Raum eskortiert werden.

Der Kulturkampf ist in vollem Gang. Es ist nicht mehr der offene Kampf wie zu Zeiten der ersten Likud-Kulturministerin Miri Regev. Ihr Nachfolger Miki Zohar hat eine Filmförderreform in Gang gesetzt, die Kassenerfolg zum wichtigsten Kriterium macht; eine lokale Komödie, die viele Zuschauer hat, bekommt also viel Geld für die nächste lokale Komödie, und es bleibt weniger übrig für die neuen Projekte von kritischen Filmemachern (die weitgehend verantwortlich sind für den guten Ruf von Israels Kino weltweit). Die schlimmsten Befürchtungen der Förderer haben sich allerdings nicht bewahrheitet: „Wir werden weiterhin in der Lage sein, die künstlerisch wertvolle Filme zu fördern, die es verdienen,“ sagt Noa Regev, die Chefin des Israel Film Fund.

Lars von Triers Kompromiss

Die Beziehungen zwischen Festival und Regierung sind, formuliert es Madahav-Levin, „korrekt“. Das JFF ist das einzige Filmereignis in Israel, das nicht von der Stadt veranstaltet wird, wo es stattfindet; es gehört einer Stiftung. Die Finanzierung stammt weitgehend aus privaten Quellen – und zehn Prozent aus der allgemeinen Filmförderung des Kulturministeriums. Vor zwei Jahren kam der Staatspräsident Jitzchak Herzog für ein Grußwort zur Eröffnung des JFF, mitten in den großen Demonstrationen gegen die Netanjahu‘sche Justiz-„Reform“, und wurde von „Demokratie, Demokratie“-Sprechchören begrüßt – bis er „Ich höre euch und unterstütze euch“ rief. Früher erschienen auch Ehud Olmert, der Likud-Premierminister, oder Miri Regev, und beide wurden ausgebuht. Jetzt kommt kein Vertreter der Politik mehr zu dem Festival. Das konzentriert sich auf cineastische Gäste, wie den einheimischen Hollywood-Star Gal Gadot.

Das ist die Innenansicht. Doch das Festival hat auch mit der Außensicht zu kämpfen. Der internationale Teil des JFF besteht weitgehend aus Filmen, die anderswo schon liefen, in Berlin zum Beispiel, oder in Cannes. Nun ist Israel wegen des Gaza-Kriegs in der kulturellen Szene Europas isoliert. Einen Film nach Jerusalem zu schicken, kann ein Politikum sein, vor allem in Skandinavien. Der angesagteste skandinavische Regisseur heißt Joachim Trier, sein neuster Film „Sentimental Value“ hat gerade den Großen Preis der Jury in Cannes gewonnen, und natürlich wollte Jerusalem ihn haben. Doch Trier hatte eine Resolution unterschrieben, die den Gaza-Krieg verurteilte.

Der Kompromiss bestand darin, dass Trier seinen Film schickte, aber selbst nicht kam. War das ein Boykott? Mascha Schilinski, mit dem Preis der Jury für „In die Sonne schauen“ aus Cannes nach Berlin zurückgekehrt, sandte ihren Film, war aber ebenfalls abwesend in Jerusalem. Ein Boykott, oder wollte sie sich und ihrem sechs Monate alten Kind die Reise nicht zumuten? Die wahren Gründe hinter den Begründungen sind selten festzumachen. „Wir bekommen in der Regel 85 Prozent der Filme, die wir anfragen“, sagt Madahav-Levin diplomatisch.

Die Cinematheque, die er seit drei Jahren leitet, liegt in einer schmalen Senke am Fuße des Zionsbergs. Sie beherbergt vier Kinos, in ihrem Lager liegt das gesamte jüdische Filmerbe, und in einem grünen Garten kann man sich bei wolkenlosen 33 Grad zwischen den Vorstellungen Pizzen backen und Cocktails mixen lassen. Soldaten in Tarnanzügen mit Maschinengewehr über der Schulter sind bei dem Festival nicht zu erblicken; an den Eingängen gibt es lässige Taschenkontrollen. Man verlässt bei Alarm zwar das Kino, schlendert aber eher in den Schutzraum und kehrt meist nach der Entwarnung zehn Minuten später zurück; der Film, so lange angehalten, läuft dann weiter. Jerusalem wird seltener angegriffen, vermutlich, weil Drohnen und Raketen auch arabische Heiligtümer treffen könnten.

Erst Kino, dann Demo

Der Krieg in Gaza, der seit 20 Monaten tobt, ist 80 Kilometer Luftlinie entfernt. Auf den Leinwänden des JFF ist er nicht vertreten, wahrscheinlich ist es einfach zu früh. Ein paar Filme tasten sich heran, kommen aber höchstens bis zum 7. Oktober, auch in den Förderprojekten des Film Fund findet sich kein expliziter Gaza-Film. Dafür sprechen viele Filme beim Festival vom tiefen Unbehagen in der israelischen Gesellschaft, schon vorher. Shai Carmeli-Pollaks „The Sea“ erzählt die einfache Geschichte eines zwölfjährigen Araberjungen aus Ramallah – man fährt auf dem Weg vom Flughafen in Tel Aviv nach Jerusalem an der Mauer entlang, die die Stadt von Israel trennt –, der versucht, sich zum Meer durchzuschlagen und dabei mit all den Einschränkungen und Schikanen konfrontiert wird, denen Palästinenser ausgesetzt sind.

Oder „Oxygen“ von Natalie Braun, in dem eine verzweifelte Mutter mit zunehmend radikalen Methoden versucht, ihren Soldatensohn aus dem Libanonkrieg herauszuhalten; der Film, der einer Müttergeneration vorhält, ihre Söhne zum Heldentum erzogen zu haben, gewann den israelischen Wettbewerb. Die internationale Jury aus dem Tarantino-Produzenten Lawrence Bender und den deutschen Regisseuren Julia von Heinz und Matthias Glasner krönte den brasilianischen Polit-Thriller „O Agente Secreto“/Der Geheimagent, der schon in Cannes Aufsehen erregt hatte.

„Es ist eine schwierige Zeit ein Festival zu veranstalten und sich dabei zu vergnügen“, gesteht Roni Madahav-Levin ein. „Manchmal packen uns dabei Schuldgefühle. Aber ich würde uns nicht als Eskapismus betrachten, nein, eine Gemeinde trifft sich hier für Inspiration und Trost durch Filme. Ich hoffe, dass man den Kinosaal nach zwei Stunden ein wenig empathischer und ein wenig verständnisvoller verlässt.“ Sara, eine Rentnerin mit weißen Locken und leidenschaftliche Kinogängerin, hat gerade „The Sea“ gesehen und ist motiviert. „Nur zehn Gehminuten von hier“, sagt sie, „findet die wöchentliche Anti-Netanjahu-Demo statt. Da gehe ich jetzt noch hin.“

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