Sissy befindet sich an der Schwelle zur Pubertät und entdeckt ihre eigene Sexualität. Als wäre das nicht schwer genug, zieht sie auch noch mit ihrer alleinerziehenden und unter Depressionen leidenden Mutter Mou von Stadt zu Stadt. Kein Wunder, dass Sissy in der Schule eine Außenseiterin ist. Tyler Wetheralls Roman „Amphibion“ schildert gleichermaßen sensibel wie eindrücklich die Metamorphose eines Mädchens auf der Suche nach Freundschaft und Liebe.

Sissy ist wieder einmal die Neue an einer Schule, doch diesmal ist alles anders: Diesmal findet Sissy eine Freundin. Tegan nämlich, die wie sie selbst eine Außenseiterin ist. Geheimnisse werden sich in die Freundschaft zwischen Sissy und Tegan einnisten und sie schlussendlich bedrohen. Doch zunächst ist da eine innige Freundschaft, die mit einem obszönen Zaubertrick beginnt: Tegan führt einer Gruppe erstaunter Jungs vor, dass sie einen Stein zwischen ihren Beinen verschwinden lassen kann. Sissy beobachtet die Szene heimlich. Tegans „Trick“ erinnert Sissy an sexuelle Möglichkeiten, die sie selbst zwar bereits erahnt, aber noch nicht ganz versteht. Gleich zu Beginn des Romans masturbiert Sissy, noch bevor sie das Wort für die schambehaftete Handlung überhaupt kennt.

Coming of Age-Geschichten gibt es viele, aber diese ist aus zwei Gründen besonders melancholisch eingefärbt: Einerseits ist da Sissys tief empfundene Traurigkeit und Einsamkeit, die verzweifelte Suche nach einer Freundin und nach Halt. Andererseits ist da Tegan, die ungemein abgeklärt und reif wirkt, doch ebenso unheimlich anmutet.

Beiden Mädchen sind die Mütter abhandengekommen, obwohl sie durchaus existieren: Tegan lebt bei ihrer Schwester, vorgeblich, weil diese näher an der Schule wohnt. Sissy lebt zwar bei ihrer Mutter Mou, doch kann sie aufgrund ihrer psychischen Krankheit nicht gut für das Mädchen sorgen. Während Tegans Schwester für diese zur zweiten Mutter wird, erscheint Sissys Mutter wie eine Schwester, was auch an dem geringen Altersunterschied zwischen beiden liegt. Sissys Name ist dabei Programm: Kann man ihn doch als Verniedlichungsform von Sister, kurz „Sis“ lesen.

Die Schuldgefühle kommen nachts

Sissy fühlt sich für ihre kranke Mutter verantwortlich; diese wiederum hegt Schuldgefühle und will sich als gute Mutter beweisen – unter anderem, indem sie Sissy nachts weckt und ihr ihre Liebe versichert. Das Mädchen ist zwischen Wut und Sorge hin- und hergerissen: „Sie soll morgens aufwachen wie alle anderen Mütter, zur Arbeit gehen und mich nicht in der Schule vergessen. Ich bin aber auch sauer, weil ich ein schlechtes Gewissen habe: Ich habe meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie nicht traurig ist, schleifen lassen, weil ich immer bei Tegan bin, und vielleicht hat sie mich mitten in der Nacht geweckt, um mich daran zu erinnern.“

Die Nacht ist die Zeit, in der die beiden Mädchen zueinander und zu sich selbst finden. Dann liegen sie gemeinsam in einem Bett, mit verschränkten Händen und an ihren Daumen lutschend, um Zungenküsse zu proben. Bei dieser Zweisamkeit geht es um ein spielerisches Element von Sexualität. Allerdings ist dieses Spiel nicht frei von Machtstrukturen: Denn immer wieder ist es Tegan, die die Richtung der sexuellen Entdeckungen bestimmt, weil sie bereits stärker von den männlichen Ansprüchen an Sexualität kontaminiert ist.

Erfrischend an diesem Text ist, dass er die Existenz eines dezidiert weiblichen sexuellen Verlangens nicht negiert und versteht, dass dieses ebenso von Macht und Beherrschungswillen durchdrungen sein kann. Noch zu Beginn des Romans markieren Männer eine diffuse sexuelle Möglichkeit für Sissy. Sie sind stillgestellte Objekte der Lust, symbolisiert durch ein Zeitschriften-Poster von „Beverly Hills, 90210“-Star Luke Perry (der Roman spielt nämlich in den 90ern).

Im Verlauf des Romans tauchen jedoch immer mehr Männer auf, die Gefahr signifizieren: Da ist Peter, ein Kumpel von Tegans Schwester, der allzu großes Interesse an den beiden Mädchen zeigt. Da ist ein Mann namens Eric, den die beiden Mädchen in einem Chatroom kennenlernen und der sie auffordert, ihnen Nacktfotos zuzusenden. Und schließlich geht da ein „Mädchenfänger“ in der Stadt um, dem immer mehr Mädchen zum Opfer fallen – und der gleichzeitig die sexuellen Fantasien Tegans befeuert. So scheint sich männliche Sexualität wie ein diffuses Bedrohungsszenario um die Mädchen herum aufzubauen.

Das Motiv der Verwandlung

Nun könnte man diesen Roman eingangs unterschätzen, weil er unbekümmert daherkommt. Doch entfaltet er Stück für Stück sein zentrales Motiv – die Verwandlung in ein Amphibium – und verknüpft dieses mit tragischen Verwandlungsgeschichten. Amphibion (lat.: zweilebig) steht im Grunde für das Übertreten einer Grenze zwischen dem einen Leben als Mädchen und dem anderen als Frau. Oder eine dritte Möglichkeit: „Ich verwandle mich nicht, wie ich soll. Ich bin weder Mädchen noch Frau. Weder Kind noch Erwachsene. Ich verwandle mich in etwas völlig anderes.“

So verwandelt sich Sissy in eine Amphibie mit Schwimmhäuten, Schwanz und Schuppen. Oder in eine Meerjungfrau? Sowohl die Orvid’schen Metamorphosen als auch Hans Christian Andersens „Kleine Meerjungfrau“ liefern Motive für den Roman: Dem Begehren der Mädchen folgt die Strafe auf den Fuß. Sie werden stillgestellt, wie Daphne, die sich in einen Baum verwandelt, oder wie die Kleine Meerjungfrau, die ihre Stimme im Tausch gegen Beine verliert. „Ich verwandle mich, aber in was ich mich verwandle, ist nicht mehr klar. Die Verwandlung tut weh. Wie der Schmerz in meiner Kehle, wenn ich mir das Weinen verkneife.“

Die aus den Märchen-Metamorphosen entlehnte Stimm- und Sprachlosigkeit gewinnt als Motiv immer mehr an Bedeutung, bis es zuletzt den Lesern selbst die Kehle zuschnürt, weil Geheimnisse und Sprachlosigkeit die innige Beziehung der Mädchen gefährden.

Von Anfang an steht ein unausgesprochenes Drittes zwischen ihnen: Nicht ein bestimmter Junge, der Eifersucht auf sich zieht. Sondern die Frage, ob die Mädchen bereit sind, sich für das männliche Begehren zu verwandeln: In stumme und still gestellte Objekte – oder in etwas ganz anderes. In sich selbst nämlich. So grauenvoll Tegan die Verwandlung der kleinen Meerjungfrau auch erscheinen mag: sie droht sie zu wiederholen, in der verzweifelten Hoffnung, sich im Begehren der Männer selbst zu entdecken.

Gerade weil sich mehr und mehr märchenhafte Motive in den Text mischen, hofft man, dass der Mädchenfänger und all die anderen dunklen Bedrohungen, die Sissy und Tegan umgeben, am Ende nur das Produkt einer lebendigen Imagination sind. Ganz real, und damit umso tragischer, kommt die schmerzlichste aller Erkenntnisse daher: Dass nämlich die keineswegs konfliktfreie, aber doch innige Beziehung zwischen den zwei Mädchen durch deren Frauwerdung zerstört wird. Dass es kein Zurück geben kann in die unschuldig-naive Welt der sexuellen Entdeckungen zwischen beiden Mädchen, weil diese immer schon bedroht ist durch die Ansprüche männlicher Sexualität, denen Tegan zum Opfer fallen wird. Das ist enorm wirkungsvoll erzählt. Und deshalb schrecklich bedrückend.

Tyler Wetherall: Amphibium. Roman. Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhm. dtv, 352 Seiten, 25 Euro

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.