Das Feuilleton hat viele Schablonen gefunden, um Erwin Chargaff würdigend zu ignorieren. Weil er Chemiker und Philologe, Naturwissenschaftler und Kritiker der Naturwissenschaften gewesen ist, nannte man ihn „Doppelbegabung“. Weil er nicht nur Gedanken hatte, sondern sie auch pointiert formulieren konnte, einen „brillanten Stilisten“. Dass er die Judenverfolgung, deretwegen er 1933 Deutschland verließ, nachdem er drei Jahre lang am Hygienischen Institut der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität Wissenschaftlicher Assistent gewesen war, als Menschheitsverbrechen erkannte, wurde ihm als Unversöhnlichkeit ausgelegt. Weil der Holocaust ihm auf ähnliche Weise wie der Atombombenabwurf auf Hiroshima Ausdruck einer barbarischen Tendenz der Rationalität samt der ihr zugehörigen Technik und Verwaltung gewesen ist, lobte oder schmähte man ihn als Misanthropen.
Tatsächlich war Chargaff nicht minder als seine philosophisch-literarischen Lehrer Johann Georg Hamann, Georg Christoph Lichtenberg, Arthur Schopenhauer und Karl Kraus vor allem eines: ein ansprechbarer, erfahrungsoffener und eben deshalb unbestechlich scharfsinniger Mensch. Er beschäftigte sich zeit seines Lebens mit allem, was ihm beschäftigungswürdig erschien, kannte keine starren Grenzen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und lebensweltlicher Erfahrung und verachtete eloquente Besserwisser ebenso wie tumbe Fachmänner – für ihn die Erscheinungsform des Trottels unter Bedingungen differenzierter Arbeitsteilung.
Die Abneigung gegen Trottel, egal ob sie als Experten, Journalisten, Beamte oder Künstler auftreten, teilte er mit Kraus, dessen Lesungen er in Wien, wo er das Gymnasium besuchte und Chemie an der Technischen Hochschule studierte, in den 1920er-Jahren noch gehört hat. Von der Frühaufklärung übernahm er ein emphatisches Verständnis des Laientums, das den Laien nicht zum Stümper stempelt, sondern ihn mit seiner Mischung aus eingestandenem Nichtwissen und Freude am Erwerb neuer Fähigkeiten als Verkörperung Kantischer „Gemeinvernunft“ ansah.
Dass Chargaff sich in seinen Büchern und Interviews als Laien bezeichnet hat, nahmen ihm die Zugehörigen der naturwissenschaftlichen Zunft übel. Gerade weil er einer von ihnen war, erschien ihnen seine Kritik an der naturwissenschaftlichen Denkform, die zu üben sie selbst sich abgewöhnt hatten, als Verrat.
Ende der 1920er hatte Chargaff sich als Student dank eines Stipendiums an der Yale University der Erforschung des Tuberkulosebakteriums widmen können. Nach einem Aufenthalt am Institut Pasteur in Paris lehrte und forschte er von 1938 bis 1974 zunächst als Assistenzprofessor und seit 1952 als Professor für Biochemie an der Columbia University. In der zweiten Hälfte der 1940er erbrachte er mit den von ihm formulierten Chargaff’schen Regeln, die die Form der DNA zu systematisieren suchten, wichtige Vorarbeiten für deren später von James Watson und Francis Crick festgestellte Doppelhelix-Struktur. Watson und Crick wurden für ihre Leistung 1962 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet, Chargaff ging leer aus.
Amerikakritiker, aber nicht antiamerikanisch
Wenn Chargaff die beiden Kollegen später als „wissenschaftliche Clowns“ bezeichnete und ihnen chemische Fachkompetenz absprach, zeugte das nicht von jenem Wissenschaftsfetischismus, den er in seinen philosophischen Werken, die seit seiner Emeritierung 1974 auf Deutsch im Klett-Cotta-Verlag erschienen sind, kritisiert hat. Ebenso wenig handelte es sich um einen bloßen Urheberrechtsstreit.
Dass gerade in den Naturwissenschaften jeglicher Erkenntnisfortschritt auf Kooperation beruht, war Chargaff bewusst. Obzwar all seine Bücher von den 1979 unter dem Titel „Das Feuer des Heraklit“ erschienenen „Skizzen aus einem Leben vor der Natur“ bis hin zum zwei Jahre vor seinem Tod erschienenen Essayband „Ernste Fragen“ (2000) voller Invektiven gegen Amerika sind, war Chargaff nie ein Anti-Amerikaner und hat das Land, in dem er als junger Mann die Vorteile akademischer Arbeitsteilung kennenlernte, immer geschätzt. Trotzdem wurde ihm, als er 1935 ins amerikanische Exil ging, gewärtig, dass die USA auch im schlimmen Sinn ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten waren.
Dass er sich dort ebenso wenig wie in Europa wirklich wohlfühlte, dass er mit Büchern wie „Warnungstafeln“ (1982), „Kritik der Zukunft“ (1983) und „Abscheu vor der Weltgeschichte“ (1988) vom Laien zum philosophischen Nörgler wurde und so zu Karl Kraus zurückkehrte, dessen Lektüre am Beginn seiner literarischen Sozialisation gestanden hat, verdankte sich dem Ernst, mit dem Chargaff der Natur ebenso wie dem menschlichen Geist als ihrer Erscheinungsform begegnete.
Ohne die Erfahrung der Habsburgermonarchie, deren vielsprachliche Wirklichkeit der am 11. August 1905 in Czernowitz geborene Sohn der Bukowina als Kind noch erlebte, wäre solcher Ernst, der Universalismus nicht als eine Oberlehrernorm, sondern als entfaltete Vielfalt individuierten Lebens kennt, kaum möglich gewesen. Als Chargaff am 20. Juni 2002 96-jährig in New York starb, gehörte diese Erfahrung auch in der Alten Welt der Vergangenheit an. Er gehört zu ihren letzten Zeugen.
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