Man müsste es bei diesem Buch, das unbedingt in alle Urlaubskoffer gehört, mal mit einer Art literarischen Blindverkostung versuchen. Müsste es nehmen und es jemandem von einigem Literaturverstand vorlesen. Und zwischendurch zwei Fragen stellen, von denen die erste unmöglich, die zweite schwer zu beantworten ist.

Darauf nämlich, wer „Rheinreise“ geschrieben hat, kommt keiner, weil Ann Schlee keiner kennt, obwohl alle sie kennen sollten. Zumindest jene, die eine Art Hilary Mantel für die späte Romantik suchen. Dass Schlee – 1934 in Connecticut geboren, in Afrika aufgewachsen, in Oxford studiert, Literatin und Mutter von vier Kindern geworden in Berkshire, ausgezeichnete Kinderbuchautorin – mit ihrem ersten Roman für Erwachsene 1981 gleich auf die Shortlist des Booker Prize kam und da nur knapp Rushdies „Mitternachtskindern“ unterlag, wäre für alle mit einem absoluten Gehör für den britischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine mindestens ebensolche Überraschung.

Die „Rheinreise“ ist die Geschichte von zwei Revolutionen: Wir schreiben das Jahr 1851, drei Jahre sind die Freiheitskämpfe in Europa her. Preußens Polizei wacht über den Widerstand gegen den allmählich absterbenden Feudalismus. Die Gesellschaft erwacht, sie merkt es aber noch nicht. Das ist der historische, der politische Unterstrom der „Rheinreise“.

Auf dem Dampfschiff, das in Koblenz ablegt, findet auch eine Befreiung statt. Die von Charlotte Morrison. Charlotte, inzwischen fast, was man damals noch eine alte Jungfer nannte, hat sich allmählich in eine Art Gepäckstück ihrer Familie verwandelt.

Ihr Bruder, ein missionarisch übereifriger Reverend mit ziemlich hohem Fremdscham-Potenzial und hoher, pompöser Pharisäerhaftigkeit, wacht über sie wie die preußische Polizei über Europas Revolutionäre. Mit an Bord sind seine allmählich erbleichende Gattin und die in alle Richtungen aufblühende Tochter. Sie sind wie Wagners Siegfried auf dem Weg den Rhein hinauf. Zum Dom im großen heiligen Köln.

Die Machtverhältnisse verändern sich

In Koblenz glaubt sie, am Kai das Gesicht jenes Mannes zu sehen, der ihr mal die Verheißung war eines selbstbestimmten Lebens. Er ist es nicht. Aber wie von einem feinen Erdbeben in Bewegung gebracht, verändert sich die Tektonik der Beziehungen mutmaßlich ähnlich für immer, wie sich in Europa die Machtverhältnisse verändern.

„Rheinreise“ – traumhaft schön wie eine Kreuzung aus Heine und Henry James – ist der Roman von Charlottes allmählicher Selbstermächtigung, eines Erwachens, eines späten Erwachsenwerdens. Erzählt wie von einem Originaltonspezialensemble für die spätviktorianische Literatur gespielt. Ohne jeden falschen Ton, extrem konzentriert und farbenreich. Man wird in den Strom der Erzählung gesogen, da ist man kaum angekommen an Bord des Dampfers.

Burgen werden besucht (Stolzenfels auf einem Esel – eine Enttäuschung). Das Rheintal öffnet sich wie die Perspektiven in Charlottes Leben. Und es ist Sommer: „Ein deutscher Sommer ist etwas Schnelles, Schimmerndes, Lebhaftes. Der Winter ist oft so lang und grau, dass man im April zu verzweifeln und zu glauben beginnt, die Trübnis könnte ewig andauern und die Sonne nie mehr die Kraft finden, sich für mehr als ein paar triste Stunden über den Horizont zu bewegen, bevor sie erneut müde hinter ihm verschwindet.“

Charlotte wird von Schlee in kein modernes Feminismuskorsett gezwängt, ihr wird keine Botschaft aus der Gegenwart übergestülpt. Sie weiß und ahnt von den eigentlichen Möglichkeiten einer Frau nur gerade so viel, wie eine Frau zu ihrer Zeit ahnte oder wusste. Charlottes „Rheinreise“ ist, ohne dass man Ann Schlee die Anstrengung der Anverwandlung an eine seit anderthalbhundert Jahren vergangene Zeit auch nur eine Zeile anmerkt, erschütternd schön und schön gegenwärtig.

Ann Schlee: Die Rheinreise. A. d. Engl. v. Werner Löcher-Lawrence. Dumont. 240 S., 24 Euro.

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