In einem berühmten Essay hat der Kabbalah-Forscher Gershon Scholem aufgedeckt, dass der Messiasglaube eine Funktion der Schwäche des jüdischen Volkes war. Je elender die Umstände der Juden, je blutiger die Verfolgung, je hilfloser die Opfer, desto stärker der Glaube an einen guten und gerechten König, der das jüdische Volk aus der Verbannung heim ins Gelobte Land führen würde, Auferstehung der Toten und Rache an den Feinden inklusive. Hinterher, so dachten zumindest manche Rabbiner, werde eine Welt des Friedens entstehen: keine Gewalt mehr, keine Seuchen, keine Armut. Und damit wären wir bei den Kennedys.

Der Aufstieg der Kennedys hatte etwas Märchenhaftes: Joseph Patrick Kennedy, der Patriarch des Clans, schaffte es nicht nur, ziemlich schnell reich zu werden, er wurde außerdem noch mächtig: Präsident Roosevelt machte ihn zum Botschafter in Großbritannien. (Dass er Sympathien mit den Nazis hatte, schadete ihm keineswegs.) Einer seiner Söhne, John F. Kennedy, wurde später Präsident, der andere wurde Justizminister, der dritte ein legendärer Senator; sowohl John F. als auch Robert Kennedy wurden von Millionen Amerikanern geliebt, und Ted Kennedy galt an seinem Todestag im Jahre 2009 als „elder statesman“.

Das Unwahrscheinliche an diesem Aufstieg ist, dass die Kennedys ihrer Herkunft nach Iren und ihrer Konfession nach katholisch waren. Im Amerika der Sechzigerjahre, als Amerikaner noch weiß und protestantisch zu sein hatten, rief das zumindest Naserümpfen hervor. In den heiligen Hallen der Macht hatten Papisten jedenfalls nichts verloren.

Trotz ihres märchenhaften Aufstiegs schien auf den Kennedys ein Familienfluch von antiken Ausmaßen zu lasten: John F. Kennedy wurde 1963 erschossen, sein jüngerer Bruder Robert fiel fünf Jahre später einem Attentäter zum Opfer, als er gerade beschlossen hatte, sich um das Amt des Präsidenten zu bewerben. Ein Jahr später fuhr Ted Kennedy betrunken ein Auto von einer Brücke in einen Bach und brachte dabei aus Versehen seine Beifahrerin, eine hübsche junge Frau, um; damit konnte er natürlich nicht mehr Präsident werden.

Eine Lieblingsbeschäftigung amerikanischer Demokraten besteht darin, sich Was-wäre-gewesen-wenn-Szenarien auszumalen: Was, wenn die tödlichen Kugeln John F. Kennedy in Dallas verfehlt hätten? Vielleicht hätte er nicht Zehntausende junge Amerikaner in die Dschungel von Vietnam geschickt? Was, wenn Robert Kennedy, ein Linker, dessen Herz für schwarze Bürgerrechte brannte, 1969 den Vereinigten Staaten das Trauma einer Nixon-Präsidentschaft erspart hätte? Was, wenn Ted Kennedy zur Verfügung gestanden hätte, wenn also nach Nixon nicht der glücklose Jimmy Carter, sondern ein weiterer Kennedy ins Weiße Haus eingezogen wäre?

Weil all dies ins blasse Reich der Spekulationen gehört, konzentrierten sich alle Hoffnungen auf John F. Kennedy Jr., den Sohn des ermordeten Präsidenten, der öffentlich „John John“ genannt wurde. Ein berühmtes Foto zeigt ihn, wie er sich als kleiner Junge unter dem Schreibtisch seines Vaters im Oval Office versteckt. Ein anderes Foto brach dann das Herz der amerikanischen Nation: Da steht er als Dreijähriger und salutiert vor dem Sarg, in dem sein Daddy liegt.

Eine dreiteilige Serie auf CNN, die sehr angemessen „American Prince“ heißt, zeigt jetzt das Leben des Mannes, der später aus ihm wurde. Bekanntlich gibt es in Amerika kein Königshaus und keine Adeligen; die emotionale Lücke, die dadurch entsteht, wird meistens durch Hollywoodstars geschlossen. John F. Kennedy Jr. war zwar kein Hollywoodstar, aber er benahm sich wie einer. Und er hatte nicht nur einen berühmten Vater, sondern auch eine glamouröse, intelligente Mutter: Jackie Kennedy, die später den Schiffsmagnaten Aristotle Onassis heiratete.

Sie war es, die das Weiße Haus, das ihr Gatte führte, mit Camelot verglich, dem Schloss des legendären König Arthur. Mit der Wirklichkeit hatte das zwar nichts zu tun, aber es entrückte den toten Präsidenten endgültig in die Höhen des Mythos. Und etwas davon färbte auf seinen Sohn ab.

Es half, dass „John John“ ein geradezu unwirklich schöner Mann war: In der CNN-Serie bekommen wir ihn mehrmals ohne Hemd zu sehen, und er wirkt wie eine griechische Götterstatue. Da er sich mit dem Heiraten Zeit ließ, galt er lange als „der begehrteste Junggeselle Amerikas“. Er hatte eine Reihe schöner, prominenter Freundinnen, unter ihnen Sarah Jessica Parker, Brooke Shields, Daryl Hannah, bis er Carolyn Bessette traf, die er 1996 heiratete; die beiden waren das glamouröseste Paar von Manhattan. Aber auch Männer waren von ihm beeindruckt: Der Schriftsteller Kurt Andersen, bei dem er Rat suchte, erzählt, dass dieser junge Mann ihm sofort gefiel. Er war intelligent, warmherzig und überhaupt nicht eingebildet.

In den Neunzigerjahren versuchte John F. Kennedy Jr. etwas, das eigentlich gar nicht ging: Er gründete ein Magazin, das sich politischen Themen auf unpolitische Art nähern sollte. Bill Clinton war gerade eben Präsident geworden, weil er es geschafft hatte, junge Amerikaner in die Wahlkabinen zu locken, und spielte öffentlich Saxofon. Gleichzeitig begann Newt Gingrich, die Republikanische Partei auf Krawall zu polen – er verwandelte sie aus einem Club moderater Konservativer in eine Fundamentalopposition. Der rechte Radiostar Rush Limbaugh betrat die Szene.

Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund erschien das Magazin „George“, dessen erstes Cover eine als George Washington kostümierte Cindy Crawford zeigte. Zu den Autorinnen und Autoren von „George“ gehörten Ultrakonservative (Ann Coulter, Kellyanne Conway) ebenso wie Linksliberale (Al Franken, George Clooney). Was sie alle vereinte, war das Bemühen, Politik mit Pop zu vereinen. Im Rückblick überrascht nicht, dass das seltsame Magazin floppte (es wurde im Frühjahr 2001 eingestellt), sondern dass es gut fünf Jahre lang erschien. Das war vor allem dem Charisma des Magazingründers John F. Kennedy Jr. geschuldet.

Allerdings entging am Ende auch er dem Familienfluch nicht. John F. Kennedy Jr. war ein leidenschaftlicher Hobbypilot; am 16. Juli 1999 hob er mit seiner Maschine, einem Kleinflugzeug mit sechs Sitzen, von einem Flughafen in New Jersey ab. Die Reise ging nach Martha’s Vineyard, der idyllischen Insel, die im Süden vor der Küste von Cape Cod liegt. In der Dunkelheit muss Kennedy über dem Meer die Kontrolle über sein Flugzeug verloren haben, er und seine Frau Carolyn Bessette-Kennedy und deren Schwester starben wahrscheinlich sofort nach dem Aufprall auf dem Wasser. Kennedy wurde nur 38 Jahre alt.

Seltsamerweise war es vor allem ein Teil der rechtsradikalen QAnon-Verschwörungsgemeinde, die bis gerade glaubte, John F. Kennedy Jr. habe seinen Tod damals nur vorgetäuscht, werde bald wieder in der Öffentlichkeit erscheinen und vor Donald Trump das Knie beugen. In Gestalt seines Cousins, des Anti-Impf-Ideologen und Gesundheitsminister Robert F. Kennedy, ist dieser Traum dann auf verdrehte Art Wirklichkeit geworden.

Warum aber zeigt der Nachrichtensender CNN gerade jetzt einen ausführlichen Film über den Sohn von John F. Kennedy, der so schön war wie ein Gott und so redlich wie ein Mensch? Es könnte mit der realen Machtlosigkeit der Demokraten zu tun haben. Die Demokratische Partei kontrolliert weder das Weiße Haus noch den Supreme Court oder den Kongress. Sie hat keinen Einfluss in den heutigen Massenmedien: TikTok, X, rechtsradikalen Podcasts aller Art, Radioshows im ländlichen Amerika. Sie ist – da es sich in Wahrheit um eine Parteienkoalition handelt – untereinander zerstritten.

In einer solchen Lage wünscht man sich natürlich einen Messias, der die Feinde der Freiheit zerschmettert und ein goldenes Zeitalter der Gerechtigkeit heraufdämmern lässt. Wenn ein neuer John F. Kennedy Jr. aus den Höhen von Camelot heruntersteigen würde, um junge Männer und Frauen zu begeistern – wäre nicht just dies der Moment, nach dem sich alle Linksliberalen in Amerika sehnen?

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