Henrik Szántó, geboren 1988, kommt aus einer jüdischen Familie mit Wurzeln in Ungarn und Finnland. Er lebt als Autor und Moderator in Hannover, bespielt als Spoken-Word-Künstler Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum. 2024 war er für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert. Der nachstehende Text ist ein Auszug aus seinem Roman „Treppe aus Papier“, der am 20. August bei Blessing erscheint (224 Seiten, 23 Euro).

*

Ein Unbehagen zieht durch die Rohre und Glasfaserkabel zu uns hinauf. Als sei jenseits unserer Sicht ein Brandherd entstanden, der seinen Kreis um uns zu schließen beginnt. In der Erde ist Bewegung. Wir können nur vermuten, dass es ein Baggerarm ist, einer, der im Tiefbau einen Klafter Grund von rechts nach links schüttet, einer, der unabsichtlich freilegt, was im Dunkeln ruht. Wir erinnern die Tage der heulenden Sirenen, die Geschichten der dünn bemannten Flak und das Zittern in den ausgebauten Kellern, als die Bomberstaffeln ihre Tonnage aus ihren Bäuchen spien. Wie es klingt, wenn Ziegel bersten, und wie sie unsere Fenster aufreißen, bevor sie in den Keller eilen, damit die Druckwellen nicht das Glas zerschmettern. Wir sind von den Einschlägen verschont geblieben, aber in Kriegen ist jede Schonfrist willkürlich und auf Zeit.

Angst hat ihre Endgültigkeit. Sie zwingt einen Körper zu Entscheidungen, zu Kampf, Flucht oder Erstarren, aber diese Wahl bleibt uns nicht. Nur zu gern hätten wir den Fliegerstaffeln eine betonierte Faust entgegengereckt oder uns verschanzt in einem schlecht beleuchteten Straßenzug. Uns bleiben gegen den eigenen Willen nur das Erstarren und Hoffen, das Zählen der Einschläge um uns herum, der wankende Boden, die Krater, die Schreie. Überall Scherben, Ruß und Blut. Ein Thermitstab entzündet eine Magnesium-Aluminium-Legierung. Materialkomponenten münden in Feuer. Uns hilft dieser Fokus auf Bestandteile, das erschafft Ordnung, wo keine ist. So bleibst du beschäftigt, wenn du erstarrst.

Jetzt, viele Jahrzehnte danach, beim Bau eines Parkhauses oder dem Abriss einer Einkaufspassage, jetzt jedenfalls endet der Schlummer der ungezündet Gefallenen. Es zieht zu uns hinauf. Genau am Rande des uns Wahrnehmbaren liegt, das wissen wir so klar, wie wir etwas wissen können, eine Bombe, so aus der Zeit gefallen wie der Krieg und doch so gefährlich wie der Gedankenlauf, der diesen schuf. Wir spüren sie und wir ahnen: Wir bleiben mit diesem Wissen fürs Erste allein.

Beim Blättern des Fotoalbums

Nele sitzt in ihrem Zimmer, auf dem Schoß das Album. Sie zählt die Atemzüge. Wenn zu Weihnachten die Familienfotoalben hervorgeholt werden und man bei Opis Badeurlaub auf Borkum ein paar Hakenkreuze wehen sieht, tut das einen Stich. Da regt sich Scham, die sich rasch betäuben lässt mit dem Gedanken, dass die eigene Familie es ja auch schwer hatte.

Immerhin gibt es noch Fotos. Es ist genau dieses Verdrängen, dem Nele keinen Raum lassen will. Also öffnet sie das Album und beginnt zu blättern. Es ist alles schwarz-weiß. Das Transparent aus Pergamin prägt ein Muster aus Spinnweben, die jedes dahinterliegende Bild in einen milchigen Schleier hüllen. Nele weiß nicht, warum Spinnenpapier in Fotoalben verwendet wird, weiß nicht, dass Fotopapier bis in die Sechziger bei genügend feuchter Luft aufzuquellen und damit zu kleben begann, sie weiß nicht, dass durch die spinnennetzartige Prägung die Fotos nicht aufeinanderkleben und sich in einer Melange aus Gelatine und Silbersalzen auflösen. Für Nele sind das einfach Spinnweben, wie beim Abstieg zu einer Gruft, die sie beiseitestreichen muss, um zu erkennen, was dahinter liegt, um tiefer hinabzusteigen in den Schoß der Geheimnisse.

Sie weiß nicht, dass Pergamin seine Durchsichtigkeit dank einer besonders scharfen Satinage erhält, der Einebnung jeder Rauheit durch gezielten Druck, und auch nicht, dass dafür früher polierte Hämmer verwendet wurden, bis der Einsatz eines Kalanders profitabler war. Sie weiß nicht, wie viele Worte es gibt für die Entstehung dessen, worin sie blättert, wie viel Physik und Chemie, Schöpfersinn und Vision in Summe ihre Vorfahren rahmt.

Sie weiß, was ein Hakenkreuz ist

Aber sie weiß, was ein Hakenkreuz ist und dass die Flagge, vom Wind in Form geweht, weder ihren Opa noch seine Geschwister zu stören scheint. Das war damals einfach so, denkt sie. Sie blättert durch Bilder, deren Hintergrund durchzogen ist von den Insignien einer Zeit, die in ihrem Kopf als eine unterdrückerische gilt – und in der sich das gesamte Personal auf jedem Bild frei zu bewegen weiß.

Nele sieht Pimpfe in ihren Uniformen, diese komische Frisur, die bei den Frauen in Mode war, Opa in einem Rapsfeld, lächelnd, Opa mit ein paar Uniformierten, irgendwann sucht sie nur noch ihn, überfliegt die anderen Gesichter von den Verwandten, die sie nie kennengelernt hat, von den Bekannten, über die niemand mehr spricht, sucht nach ihrem Großvater, erkennt sein Lächeln, die drahtige Figur, der auch ihr Papa nacheifert, das helle Haar, es ist alles monochrom, sie weiß nicht, ob er blond ist oder brünett, Nele sucht.

Ein Strand. Wehende Flaggen, diese Badeanzüge, die wirklich gar nicht gehen, Sonnenschirme aus Papier, Menschen im Garten, Hakenkreuz, Hakenkreuz, Hakenkreuz. Nele seufzt auf, legt den Kopf in den Nacken und massiert ihre Schläfen. Alle Fotos sind beschriftet, das hilft gleichzeitig viel und wenig, denn nur weil etwas geschrieben ist, heißt das nicht, dass der Informationsgehalt hoch ist. Ewald am Meer steht unter einem der Bilder, und es zeigt: ihren Opa am Meer. Er wirkt zufrieden, sein Stand ist fest, die Arme tun immer etwas, als fielen sie ab, wenn er still verharrte. Sein Blick ist wach. Vielleicht ist er gar nicht zufrieden, sondern bloß selbstsicher. Nele legt in Gedanken das Gesicht des jungen Mannes mit dem aus ihrer Erinnerung übereinander. Sie addiert Falten, subtrahiert Haar.

Auf der vorletzten Seite springt ihr ein Bild ins Auge. Es ist ein unscheinbares, aufgenommen an einem Vormittag oder gar einem Morgen, und es zeigt ihren Großvater im Flur. Er steht vor einem Spiegel und betrachtet die Schulterstücke seiner, wie Nele vermutet, grauen Uniform. Das Foto ist seitlich aufgenommen, auf dem linken Unterarm ist eine Raute auf den Ärmel gestickt und darin die Buchstaben: SD. Sie hat es befürchtet, aber nur, weil man ahnt, dass ein böses Erwachen droht, ist der Moment nicht ohne Wucht.

Opa war im Geheimdienst der SS

Ihre Gedanken rasen in einer ihr unbekannten Geschwindigkeit, all das in der letzten Zeit anrecherchierte Wissen formt sich durch synaptische Verbindungen zu dem, was wir als Erkenntnis kennen: SD bedeutet Sicherheitsdienst, Sicherheitsdienst bedeutet Geheimdienst der SS, bedeutet Reichssicherheitshauptamt, und das wiederum, dass Ewald Bittner entweder Teil des Sicherheitsdienstes war oder Teil der Gestapo, die, wenn sie Uniform trugen, ebendiese Uniform trugen, und jetzt folgt das, was Nele aber so richtig wütend macht, nämlich, dass diese Uniform – ohne die SD-Raute – von Haus aus eine SS-Uniform ist, und als sie liest, wie dieses Foto beschriftet ist, als die gesamte Bedeutung von Aufbruch nach dem Heimaturlaub über sie hereinbricht, da schlägt sie das Album zu.

Er hatte auch Ärger, weil er denen geholfen hat, tönt es ihr in den Ohren. Er hat einige eingesammelt und sie aus der Stadt gefahren. Nele versteht mittlerweile, was es heißt, wenn Gestapo oder SD oder SS an der Front jemanden aus der Stadt fahren. Was sie nicht versteht: Wie ihre Eltern so blind sein können. Wie sie so bequem und ignorant sein können, wie sie niemals die vor ihnen in Bildern gegossene Welt genau betrachteten. Sie hat Fragen gestellt, und sie hat dafür Ärger bekommen, Vorwürfe, sie hat die Lügen ihrer Eltern satt, die Trägheit.

Nele reißt ein Kissen an sich und schreit mit aller Kraft hinein. Dann sinkt sie auf den Rücken. Ihr Opa sagte einst, er hoffe, ihr Haar bleibe so schön blond. Ihr Opa sagte einst, die seien kein guter Umgang. Ihr Opa sagte einst, sie sei ein gutes Mädel.

Da liegt kein Pergamin mehr über den Sätzen. Da klebt nichts an der Prägung. Alles liegt offen und unverhüllt vor ihr. Nele lernt, wie stark sie sich unterscheidet, die Welt, in der man ahnt, von der Welt, in der man weiß.

Henrik Szántó: Treppe aus Papier. Roman. Blessing Verlag, 224 Seiten, 23 Euro

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.