Eine der größten Überraschungen des Jubiläums-Bandes für Jürgen Ploog, den sein Sohn David mit dem Germanisten und Antiquar Wolfgang Rüger herausgegeben hat, erlebt der Leser gleich zu Beginn. Das Vorwort wird eingeleitet mit einer Maxime des kolumbianischen Schriftstellers Nicolás Gómez Dávila: „Zukunft hat nur der Künstler, dem die Kritik die Aktualität abspricht.“ Wie passt Dávila, fundamentalistischer Katholik und literarisch-philosophischer Doyen der Neuen Rechten, der sich als radikalen Anachronisten und die Geschichte der Moderne als diabolische Verirrung ansah, zum Cut-up- und Underground-Künstler, als der Ploog von der überschaubaren Gruppe seiner Anhänger geschätzt wird? Allein schon die Tatsache, dass David Ploog und Wolfgang Rüger ihm ein Gedächtnisbuch widmen, könnte die Antwort weisen. Am 9. Januar dieses Jahres wäre Jürgen Ploog 90 Jahre alt geworden, am 19. Mai war sein fünfter Todestag. Wer solche Daten ernst nimmt, muss ein spezifisches Verständnis von Avantgarde pflegen: keines, dem das Abservieren des vermeintlich Überkommenen über alles geht, sondern eines, das im Bruch mit der Tradition deren verschütteten Gehalten treu bleibt.
Tatsächlich sind Ploogs Cut-up-Texte, die beginnend mit dem 1969 erschienenen Collage-Roman „Cola-Hinterland“ in Kleinverlagen, Zeitschriften und Underground-Publikationen erschienen, ebenso wie die „Logbücher“, die er seit „Pacific Boulevard“ von 1977 veröffentlichte, insofern dem von Dávila gepflegten Genre der Scholie – der Randnotiz zu anderen Texten – ähnlich, als es sich um Sammelbücher, Alben, Kompendien und Aufzeichnungen, also um sekundäre Texte im durchaus primären Sinn handelt. Solche Texte verstehen sich nicht von selbst, sondern nur durch beständige Lektüre dessen, woraus sie selbst bestehen und was sie kommentieren. William S. Burroughs‘ Verbindung des Stream of Consciousness mit grafischen Techniken der Collage war für Ploog nicht minder wichtig als Rolf Dieter Brinkmanns Alltagsphantasmagorien und Hubert Fichtes Verschränkung von ethnografischem Tagebuch und dokumentarischer Protokollliteratur. Dokumente waren für Ploog keine Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern deren Schnipsel, Ausriss und rudimentäre Spur: Solche Spuren las er aus allem zusammen, was ihm Zufall, Recherche und Alltag, Plakate, Zeitungen und LP-Cover, aber auch Träume und Tagesfantasien zutrugen. Wie Dávila ein Autor der Randbemerkungen, so war Ploog auch ein Spurenleser, Spurensammler und Spurenüberlieferer.
Ploog hat in seinen Selbstauskünften – Tagebuchnotizen, Gespräche und Briefwechsel mit ihm nahen Kollegen wie Rüger, Carl Weissner und Jörg Fauser, von denen einige in dem Band zusammengetragen sind – immer wieder auf die Bedeutung hingewiesen, die die berufliche Tätigkeit als Langstreckenpilot für seine künstlerische Arbeit gehabt habe. Die Notwendigkeit, die Erfahrung der Zeitverschiebung, des dauernden Ortswechsels, der von einer monotonen Wiederkehr des Gleichen (Flughäfen, Cockpits, Hotelzimmer) grundierten wechselnden geografischen Eindrücke zu synthetisieren, um trotz allem der eigenen „Linie“ treu zu bleiben: Dies sah er als eine Aufgabe an, die sowohl der Beruf wie die Kunst ihm stellten. Die dem Schreiben wie dem Fliegen gemeinsame Erfahrung, dass „jahrelanges Reisen, Unterwegssein auch eine Belastung sein kann, die physiologische Grenzen berührt“, beschreibt Ploog in einem Gespräch mit Hadayatulla Hübsch, in dem er neben Burroughs, Allen Ginsberg und der Beat-Literatur Gottfried Benn und Arno Schmidt als literarische Leitfiguren nennt.
Lebenszirkel im Frankfurter Westend
Wie Ploog in diesem Gespräch, so räumen auch viele der versammelten Erinnerungen und Gedenktexte – von Weissner, Clemens Meyer, vor allem aber von dem Frankfurter Freund und Kollegen Wolf Wondratschek – mit dem Missverständnis auf, der Cut-up-Literatur gehe es allein um die Zerstörung habitualisierter Wahrnehmung und um Dissoziation als Selbstzweck. Im polemischen Gegensatz zu solchen Vorstellungen hebt Wondratschek hervor, Ploog habe für ihn „das Bild eines sehr disziplinierten Legionärs verkörpert, der cool und professionell seinen Auftrag erfüllte“, und für den das Fliegen wie das Schreiben und das Zusammensein mit Familie und Freunden „eine bestimmte Routine und einen bestimmten Ablauf“ gehabt habe.
Solche Diszipliniertheit lässt sich tatsächlich auch an vielen von Ploogs Leitfiguren – an manchen, wie Schmidt und Burroughs, geradezu obsessiv – beobachten: Die ästhetische und lebensweltliche Verarbeitung von Erfahrungen der Entgrenzung und Überschreitung ist nur bei strikter Beachtung gesetzter Grenzen möglich. Womöglich erklären sich daraus die konservativen Züge Ploogs, sein Traditionsbewusstsein, seine Wertschätzung von Gewohnheiten und Ritualen und seine Verbundenheit mit dem Freundes- und Lebenszirkel im Frankfurter Westend. Sie eignen auch dem Gedächtnisbuch, das, statt Ploog nur zu huldigen, fortführt, worum es ihm ging. Es besteht aus Erinnerungsschnipseln, welche, statt chaotisch zu zerfallen, eine Konstellation bilden, die gleichberechtigt neben allem steht, was Ploog selbst geschrieben hat.
David Ploog / Wolfgang Rüger (Hg.): Ploog, West End. Edition W, 346 S., 25 Euro
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