Hanno Sauer gilt als der neue Star der Philosophie. Der junge Professor hat sich nach seinem in viele Sprachen übersetzten Erfolgsbuch „Moral“ dem mächtigen Phänomen gewidmet, das auch unseren moralischen Vorstellungen zugrunde liegt. Im Gespräch über „Klasse. Die Entstehung von oben und unten“ erklärt er, warum Antifaschismus manchmal eine reine Geschmacksfrage ist, was Vinylschallplatten mit einem Pfauenschwanz gemein haben und ob es eine soziale Ungerechtigkeit ist, Thomas Mann zu lesen.
WELT: Was sagt es über meine Mutter aus, dass sie „Worschestercestersoße“ statt „Wusstersauce“ gesagt hat?
Hanno Sauer: Ich würde jetzt raten, dass eine gewisse Vertrautheit mit bestimmten Formen internationaler Küche nicht vorhanden war.
WELT: Ja, meine Mutter war Putzfrau.
Sauer: Die falsche Aussprache eines einzelnen Worts ist kein Knockout-Kriterium, das sofort die Klassenzugehörigkeit verrät. Aber wenn jemand beispielsweise die Champagnermarke Taittinger auf eine bestimmte Art und Weise ausspricht, dann sagt das schon etwas darüber, mit welchen sozialen Räumen jemand vertraut ist.
WELT: Was genau ist eine Klasse?
Sauer: Klasse ist sozial konstruierte Knappheit. Es gibt Dinge, die von Natur aus knapp sind, also Diamanten oder Trüffeln. Aber bei manchen Sachen, wie zum Beispiel Wohnungen in begehrten Vierteln, haben wir es „gemacht“, dass das knapp ist. Und auch die Vision, wie begehrenswert es ist, dort zu wohnen, kommt aus unseren Einstellungen. Das ist das Ergebnis von Statuswettbewerben um eine bessere Position in einer sozialen Rangfolge. In dieser Statushierarchie finden sich Menschen zusammen, die in der Rangfolge einigermaßen ähnlich positioniert sind. Dann können wir von Klassen sprechen.
WELT: Ist der Adel noch eine Klasse?
Sauer: Na, das hätten die gerne. In Deutschland ist der Adel abgeschafft worden mit der Weimarer Republik. Aber natürlich ist das soziokulturell trotzdem noch eine Schicht mit eigenen Gewohnheiten – man trägt Halstuch, gibt einander bestimmte Spitznamen.
WELT: Was sind „fälschungssichere Signale“, von denen in Ihrem Buch so viel die Rede ist?
Sauer: „Fälschungssichere Signale“ ist ein Begriff aus der Theorie, die versucht zu beschreiben, wie Statussymbole funktionieren. Der Hintergrund ist, dass wir Menschen eine soziale Spezies sind. Wir sind einerseits eine Art Affe, aber andererseits leben wir in riesigen Gruppen wie Ameisen. Also mussten wir Mechanismen finden, um dieses Zusammenleben möglich zu machen. Verwandtschaft ist einer dieser Mechanismen.
WELT: Das leuchtet jedem ein. Aber welches sind die komplizierteren Mechanismen?
Sauer: Das sind solche, bei denen man Informationen austauscht über Eigenschaften, die man nicht direkt beobachten kann. Zum Beispiel habe ich oft das Interesse daran, anderen Leuten mitzuteilen, dass ich vertrauenswürdig bin. Aber auch alle Bösewichte haben ein Interesse daran, das zu kommunizieren, um andere Leute auszutricksen. Also muss es irgendeine Möglichkeit geben, diese Kommunikation fälschungssicher zu machen. Und das geht, indem ich die Fähigkeit, das Signal zu senden, daran binde, dass ich die Eigenschaft wirklich besitze. Wenn jemand meine enorme Villa besucht, dann ist das ein fälschungssicheres Signal, weil ich das Signal nicht senden kann, wenn ich nicht wirklich das Geld habe, um mir diese Villa zu leisten.
WELT: Nennt man das deswegen auch „kostspielige“ oder „teure“ Signale?
Sauer: Ja. Das klassische Beispiel aus der Natur ist der Pfauenschwanz. Das ist ja eigentlich ein Handicap. Total unpraktisch. Aber der Pfauenschwanz sagt: Ich bin ansonsten als Pfau genetisch so gut ausgestattet und so fit, dass ich mir dieses Handicap hier leisten kann. Der Pfau wäre längst gefressen worden, wenn es nicht wirklich wahr wäre.
WELT: War es am Anfang des Vinyl-Comebacks ein „teures Signal“, Schallplatten zu hören?
Sauer: Na klar. Es gibt ja ein berühmtes Buch von David Brooks „Bobos in Paradise“. Bobo ist ein niedlicher Ausdruck für die Bourgeois-Bohemians, also Menschen in Städten, die finanziell abgesichert sind. Die tragen ihre Statuswettbewerbe nicht darüber aus, wer die fetteste Yacht hat, sondern über die Frage, wer den ausgefeiltesten Geschmack hat und wer die raffiniertesten Lebensstilentscheidungen trifft. Da gehört das auch rein, dass man sehr ausgewählte Möbel hat, die man auch auf Reisen zusammengekauft hat, und dass man Musik eben von Vinylschallplatte hört und nicht vulgär über Spotify. Das ist ein subkulturelles Phänomen, aber grundsätzlich ist es dieselbe Logik. Platten aufzulegen ist natürlich aufwendiger und demonstriert die besondere ästhetische Hingabe an das Medium und an die Musik.
„Skinny Jeans kann diese Logik nicht erklären“
WELT: Damit sind wir bei kulturellen Distinktionen und Habitus. Sie erklären die Entstehung kultureller Avantgarden der Moderne mit dem Distinktionsbedürfnis der oberen Klassen. Glauben Sie, dass das auch schon der Übergang von der dorischen zur korinthischen Säule durch solche Distinktionsbedürfnisse hervorgerufen wurde? Oder ist das ein neues Phänomen?
Sauer: Informationen über sich selbst zu senden, ist eine fundamentale Naturtatsache. Selbstverständlich erklärt das auch die Statuswettbewerbe im alten Rom, Griechenland, Ägypten oder Stammesgesellschaften mit ein paar Dutzend Mitgliedern. Wenn sich irgendjemand aus der römischen Aristokratie an der Adria einen Palast hingestellt hat, dann kam der nächste und hat sich einen größeren Palast hingestellt. Das fanden die auch genauso ätzend wie die Leute heute, wenn jemand mit einer größeren Yacht in den Hafen einfährt.
WELT: Trotzdem kommt es mir immer noch, was die Erklärung der Moderne betrifft, ein bisschen monokausal vor. Hat denn die Verkomplizierung der Kunst nicht auch noch andere Gründe? Zum Beispiel den sprichwörtlichen Verlust der Mitte, den Einfluss neuer Medien und Aufschreibsysteme, das Bedürfnis, eine veränderte Welt mit anderen Mitteln abzubilden, zu schildern oder zu beschallen?
Sauer: Absolut. Das ist ja ein bisschen zugespitzt. Aber es wird noch unterschätzt, wie wichtig Statuswettbewerbe für alles Mögliche sind. Allerdings kann diese Statuslogik überhaupt nicht erklären, warum genau dieser Kunststil sich jetzt durchgesetzt hat oder diese Mode. Vor zehn oder 15 Jahren mussten Jeans wahnsinnig eng anliegen, also Skinny Jeans. Die Logik von teuren Signalen, die kann aber überhaupt nicht vorhersagen, was trendy sein wird. Das können Zufälle sein, weil irgendein Prominenter sich dafür entschieden hat, jetzt enganliegende Jeans zu tragen.
WELT: Wie kann ich mich denn, wenn denn der kulturelle Kanon Ausdruck von Klassendünkel und Distinktionsbedürfnis ist, aus diesem Verblendungszusammenhang befreien? Muss ich mehr Colleen Hoover lesen als Thomas Mann und mehr Helene Fischer hören als John Coltrane?
Sauer: Befreien kann man sich wirklich gar nicht. Der Wunsch, aus dem Hamsterrad zu entkommen, ist sehr stark. Das stresst ja auch, dass man sich permanent mit anderen vergleicht. Deshalb haben viele Leute gesagt: „Komm, lass uns eine Kommune gründen!“ Die wollten als Gleiche unter Gleichen leben. Oft kann man in diesen Gruppen dem Statuswettbewerb aber auch nicht entkommen. Auf einmal wird es zum Distinktionsmerkmal, wer sich besonders hingebungsvoll den egalitären Idealen widmet: „Also mir ist Gerechtigkeit in der Kommune noch wichtiger als dir, deswegen rasiere ich mir auch nicht mehr die Achseln.“ So in der Art.
WELT: Wenn ich so weit bin, dass mir Thomas Mann und John Coltrane ganz real mehr Genuss verschaffen als Helene Fischer oder Colleen Hoover – habe ich eine Form von Klassendeformation?
Sauer: Wenn man den Begriff Klassendeformation wertneutral benutzen könnte, würde ich sagen, ja. Das ist natürlich auch ein teures Signal. John Coltrane ist ja nicht so zugänglich wie ein Drei-Minuten-Song, den man nach der ersten Strophe sofort mitsingen kann. Das ist wie der Pfauenschwanz. Ein dickes Buch zu lesen, ist ja auch ein Handicap, das kostet Zeit und Ressourcen. In der Zeit könnte ich Flaschen sammeln. Muss ich aber nicht, weil ich mir das eben leisten kann. Das heißt nicht, dass der Genuss daran fake oder zynisch ist. Man kann das genuin genießen.
WELT: Wo wir gerade bei der Familie Mann sind: Inwieweit kann Klassendünkel und Distinktionsbedürfnis einen auch vor dem Faschismus schützen oder gegen den Faschismus imprägnieren? Sie haben ja dieses schöne Beispiel mit den Mann-Kindern.
Sauer: Ja. Das müssen ja wirklich unerträgliche Gören gewesen sein, vor allem die älteren beiden.
WELT: Golo war eigentlich der einzig Vernünftige.
Sauer: Das sehe ich ganz genauso. Aber Klaus und Erika waren mir immer sehr unsympathisch, weil die wirklich unerträglich schnöselig waren. Heute sagt man „entitled“. Aber genau deshalb war die ganze Familie vollkommen immun gegen die Nazis. Die hätten sich nie gemein gemacht mit denen. Die Nazis waren ja sehr antiintellektuell. Das war das absolute Gegenteil dieser dünkelhaften Leute. Und das, glaube ich, hat die gegen diese Bewegung noch stärker immunisiert als der bloße moralische Einwand, den es natürlich auch gab.
WELT: 2019 empörte sich das ganze liberale und linke Deutschland tagelang über ein Rechtsrock-Festival in Thüringen. Da sah man dann immer Bilder von aufgepumpten, übergewichtigen, sonnenstudiobraunen und tätowierten Nazis, die allen Nazi-Hässlichkeits-Klischees entsprachen. Und ich hatte immer den Eindruck, dass in der Aufregung mindestens genauso viel Standesdünkel und guter alter Abscheu vor dem Pöbel im Spiel war wie Antifaschismus. Können Sie sich vorstellen, dass das so war?
Sauer: Ja. Und natürlich wissen die Nazis auf dem Festival auch, dass Sie und ich auf sie herabschauen. Darin liegt auch eine enorme Gefahr. Die populistischen und auch rechtsextremen Tendenzen in Europa und in Amerika sind zu einem großen Teil daraus zu erklären, dass es eine kritische Masse an Menschen gibt, die sich herablassend beurteilt vorkommen von genau den Coltrane-hörenden, Mann-lesenden Nerds wie uns. Und wenn wir ehrlich sind, haben die auch recht damit.
WELT: Für das Spiel der Eliten mit Moral als Signal nutzen sie den Begriff „Aretokratie“. Was ist das?
Sauer: Es wurde ja in den vergangenen Jahren oft gesagt, dass soziale und politische und intellektuelle Diskurse sich sehr moralistisch anfühlen. Dafür gibt es Begriffe wie „virtue signaling“ – also moralische Selbstdarstellung. Man prahlt damit, dass man sich noch stärker als andere einsetzt gegen Rassismus, gegen Sexismus und gegen Ableismus. Und dass man nicht mehr „arme Menschen“ sagt, sondern „armutsbetroffene Menschen“ oder so. Diese linguistischen Reformen rühren daher, dass Menschen Statuswettbewerbe primär mit moralischer Währung austragen. Das wiederum liegt daran, dass es viele Menschen gibt, die sogenannte „High-Status-Low-Pay-Jobs“ haben. Das sind Jobs mit einem relativ hohen Prestige, wie zum Beispiel Universitätsprofessor oder Feuilletonredakteur. Das sind coole Berufe. Aber damit wird man nicht reich.
WELT: Und wozu führt das?
Sauer: Natürlich versucht man dann, Statuswettbewerbe eher mit der Währung auszutragen, von der man selbst viel hat. In diesem Falle sind es der kulturelle Einfluss, besonders fein kalibrierte moralische Werte und auch linguistische Kosmetik. Man kennt die neueste Art und Weise, besonders moralisch einwandfrei zu sprechen. Das weiß ein vielleicht sogar sehr wohlhabender Unternehmer in der schwäbischen Provinz nicht. Die Logik von fälschungssicheren Signalen führt dazu, dass diese permanente linguistische Innovation stattfindet. Der Erste sagt nicht mehr „Schwulenbewegung“, sondern LGBT. Und dann sagt die nächste Person: „Ha, es heißt jetzt nicht mehr LGBT, sondern es heißt LGBTQIA+.“ Der Statuswettbewerb besteht hier im Dranhängen des nächsten Buchstabens.
WELT: Inwieweit kann man von England, Florenz und China etwas über die Vererbung eines hohen Klassenstatus lernen?
Sauer: Es gibt Studien, die zeigen, dass sich die Frage, wer heute zur Elite gehört, in verschiedenen Gesellschaften zu einem überraschend hohen Teil daraus ableiten lässt, wer früher zur Elite gehört hat. Man kann über Jahrhunderte zeigen, dass Statuszugehörigkeit zu einem hohen Grade erblich ist. Das geht über die chinesische Kulturrevolution hinaus, das geht über die Französische Revolution hinaus, das geht über die Einführung von allgemeiner Schulpflicht hinaus. In Florenz über 500 Jahre. Eine ganz neue Studie zeigt, dass in England der Wert von Immobilienbesitz mit dem Verwandtschaftsgrad korreliert. Man sieht daran, dass Statuszugehörigkeit und Klassenzugehörigkeit unglaublich hartnäckig sind und unglaublich unzugänglich für Reformen.
Die Serien-Illusion
WELT: Was ist das Problem mit Serien wie „White Lotus“ oder „Succession“?
Sauer: Es gibt einen Markt für solche kulturellen Produkte, die zeigen wollen, dass sehr wohlhabende Menschen entweder Clowns und Idioten sind oder skrupellose Psychopathen. Tatsächlich wissen wir natürlich, dass Reiche im Großen und Ganzen ganz normale Leute sind. Die Frage ist also, woher kommt dieser Markt für dieses Medium? Ich glaube, das spricht Menschen mit Statusängsten an. Die gucken sich diese Serien an, um sich ein bisschen darüber hinwegzutrösten, dass andere Leute noch reicher sind und in noch größeren Häusern wohnen.
WELT: Was sagt uns die Hochzeit von Jeff Bezos in Venedig über die globale Oberklasse?
Sauer: Es sagt mindestens zwei Sachen. Nämlich erstens, dass am Ende die globale Upper Class miteinander im Bett liegt. Trotz aller Differenzen. Wenn es um Jeff Bezos' Hochzeit geht, dann sind sie eben doch alle da. Und zweitens sieht man natürlich, dass Jeff Bezos nicht wirklich qua Herkunft zur Elite gehört. Wenn ich provozieren will, sage ich manchmal, dass Bezos klassenmäßig unter mir steht. Dann kann er noch so reich sein. Und das geht auch nicht weg. Man sieht das ja auch an der Partnerwahl. Die Frau hat – genau wie die solariumgebräunten, tätowierten, radikal rasierten Nazis – alle Insignien des Prolls. Mit falschen Brüsten und Lippen und so. Auch die Kleidung – der schlecht sitzende Smoking von Bezos und so weiter – das ist alles Aufsteigermilieu, dem eben die letzte Vertrautheit mit diesen Habitusfragen und geschmacklichen Codes offensichtlich noch fehlt.
Hanno Sauer: „Klasse. Die Entstehung von Oben und Unten“, Piper-Verlag, 368 Seiten, 26 Euro
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