Verwunderte Blicke im Publikum, als die Saaltüren nach der Pause wieder schließen, zumindest unter denen, die noch geblieben sind. Viele sind es nicht, die noch die zweite Hälfte von „Le Passé“ bei den Salzburger Festspielen sehen wollen – und das am Premierenabend. Einige werden auch noch gehen, bevor der viereinhalbstündige Theaterabend von Julien Gosselin endet. Dem Applaus nach zu urteilen, gibt es immerhin auch einige Fans des französischen Star-Regisseurs. Der Abend hinterlässt auch die Kritik zutiefst gespalten, es hagelt Verrisse, doch auch Hymnen sind zu lesen. Hier wie dort geht es geschichtsphilosophisch zu: Entweder gilt er als Avantgarde oder als Recycling von vorgestern. Wie lässt sich eine solche Polarisierung erklären?

Auf den ersten Blick gar nicht. Bei Gosselin ist von dem klassischen Repertoire, um das Publikum zu vertreiben und die Kritik zu verärgern, nichts zu finden. Provokation und Dekonstruktion finden sich hier ebenso wenig wie Schockmomente und Nacktheit. Wobei selbst das, siehe Florentina Holzinger, heute für Begeisterungsstürme und ausverkauftes Haus sorgen kann. Doch mit einer Ästhetik der performativen Entgrenzung hat Gosselin nichts zu tun. Der 38-Jährige bringt große Romane und Textcollagen als bombastischen Live-Film mit Überlänge auf die Bühne. Theater mit üppigem Erlebnisfaktor. Das klingt eher nach Everybody’s Darling als Enfant terrible.

Gosselins Karriere geht steil nach oben, seit vergangenem Jahr leitet er das berühmte Theater L’Odéon in Paris. Beim Festival in Avignon ist Gosselin ein Dauergast: Bereits 2013, als Mittzwanziger, landet er dort mit Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ einen Überraschungserfolg. Drei Jahre später zeigt er dort „2666“ nach Roberto Bolaño, der zwölftstündige Abend gilt für viele als sein bester. Zwei Jahre später folgen drei Romane von Don DeLillo, Länge: acht Stunden. Und 2023, nur fünf Stunden lang, „Auslöschung“, eine Collage aus Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Thomas Bernhard. Bis in die Morgenstunden harrt das begeisterte Publikum in Avignon aus, während die Zuschauer bei der Berliner Premiere an der Volksbühne – wie auch bei „Le Passé“ in Salzburg – in Massen flüchten und demonstrativ die Türen knallen lassen.

Alles, was die Effektkiste hergibt

Verwunderlich ist solches Fluchtverhalten auch, weil Gosselin wirklich alles tut, um das Publikum in seine Stücke hineinzuziehen, ja eintauchen zu lassen. Seine perfekt geölte, auf minimale Reibung geeichte Theater- und Filmmaschine hat Gosselin komplett dem Immersionseffekt unterworfen. Alles, was die Effektkiste hergibt, soll einen umhüllen. Selbst die Textmassen dienen nicht als Träger von Handlung, sondern von Atmosphäre. In „Auslöschung“ groovt man sich mit einer einstündigen Club-Szene ein, mit Freibier. Bei „Musée Duras“ – die zehnstündige Marguerite-Duras-Collage lief dieses Jahr bei den Wiener Festwochen – legt man sich anfangs mit Kissen auf die Bühne. Und doch ist das kein Mitmachtheater, sondern bleibt immer effektsicher kalkuliertes Mitfühltheater.

Hat die Theaterästhetik im 20. Jahrhundert immer wieder versucht, den Guckkasten des Theaters aufzubrechen und die berühmte vierte Wand zwecks Einbruchs von Realität zu durchlöchern, lässt einen Gosselin umgekehrt über den Umweg Film in die Illusionsbude hineinkriechen. Man schaut durchs Kameraobjektiv wie durchs Schlüsselloch. So bricht auch die Live-Kamera das Bühnenbild nicht auf und zerlegt es in Videowelt und fraktales Subjekt, sondern schließt es mit geradezu unheimlicher Glätte. Ebenso im Schauspiel, wo im bruchlosen Anschmiegen an die Rolle wieder Rotz und Wasser geheult werden darf, als hätte es Brecht & Co. nie gegeben. Am Ende wird alles in Atmosphäre aufgelöst, was Gosselin wirklich meisterhaft beherrscht.

Je mehr Gosselin auffährt, desto größer wird jedoch auch der Zweifel, ob die ganze Theatermaschinerie noch einen Zweck hat – oder in der Erlebnissimulation leerläuft. Gosselin türmt Effekt über Effekt, legt eine Schicht über die andere, alles verstärkt alles. Dass er sich mit Vorliebe Texte aussucht, wie zuletzt Schnitzler, Hofmannsthal und Bernhard („Auslöschung“), Leonid Andrejew („Le Passé“) oder Duras („Musée Duras“), die selbst die volle Ladung Weltschmerz, Existenzialismus und Fin de Siècle mitbringen, verleiht dem Ganzen einen diskreten Charme des Irrationalismus. Begreifen kann und muss man hier gar nichts, es lässt sich nur erleben und erfühlen. Gosselin zeigt bedrohte oder untergehende Welten mit kaputten Leidenschaften, zerstörerischen Gefühlen und fatalen Affekten – und enthält sich zugleich jeder Bewertung dessen.

Von diesem Großillusionismus geht eine Faszination aus, die auch dadurch nicht beschädigt wird, dass Gosselin sehr wohl den ganzen Apparat zeigt, den er zu seiner Erzeugung braucht. In „Le Passé“ sind das beispielsweise Dutzende Techniker, die live das Bühnenbild ab- und wieder aufbauen. Doch selbst dieser Einbruch von Realität hinterlässt keine Spuren in der Ästhetik, ist selbst nur ein weiterer Effekt. Das ist das Erstaunliche: Gosselin verbirgt seine Tricks nicht, doch das Offenlegen der inneren Mechanik kratzt hier nicht am Illusionismus, hat keine kritische Funktion mehr. Es bleibt äußerlich, dient gar als ästhetisches Dekor. Die postdramatischen Taschenspielertricks haben ausgedient, hier herrscht eine höhere Bühnenmagie, die alles überstrahlt.

Aufbruch oder Retro? Oder beides?

Ist das, was Gosselin macht, makelloses Kunsthandwerk oder doch mehr? Die Differenz betrifft auch die Frage, ob seine Inszenierungen eine postkritische Illusionsästhetik bedienen oder präzise das Schicksal der ästhetischen Desillusionierungskritik in der Moderne – ihren Verfall zum Dekor ohne weitere Haupt- und Nebenwirkungen – auf den Punkt bringen. Ebenso lässt sich streiten, ob das – hier in Bezug auf „Le Passé“ – eine „Überwältigungsästhetik“ ist, die „das Theater als Zauberbude wiederentdecken will“, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt, oder bloß „ein aufgedrehter Totentanz, abgestorbenes, wie mit Starkstrom zum Leben wiedererwecktes Theater“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ meint. Aufbruch oder Retro? Oder irgendwie gar beides?

Steht Gosselin für die Abkehr von „postdramatischen, post­heroischen und postmodernen Dekompositionsmoden“, wie in der Fachzeitschrift „Theater der Zeit“ behauptet wird? Oder geht er nur mit dem großen Retro-Pinsel über die Brüche der Postmoderne drüber, ohne jedoch ihre Grundstruktur der zynischen Ironisierung und Selbstbezüglichkeit anzurühren?

Mit Gosselins totaler Effektästhetik ist ein Punkt der Ununterscheidbarkeit erreicht, an dem völlig unklar ist, ob die aufs Eintauchen gebürstete Wiederkehr der Illusion wirklich zukunftsweisend oder doch nur Resterampe des Abgestandenen in neuer Verpackung ist. Und es dürfte gerade diese hartnäckige Unklarheit sein, die umso klarere Reaktionen bei Publikum und Kritik provoziert.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.