Mord, sagt Christopher Swann zu Phyl, der Tochter seiner Studienfreundin Joanna, bei einem Spaziergang durch die High Street von Rookthorne, sei tief in der britischen Lebensart verankert. Die Jüngere, gerade hat sie ihr Englisch-Studium beendet, ist wieder bei den Eltern eingezogen, jobbt in einem Sushi-Restaurant am Flughafen Heathrow und weiß nicht genau, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, hat leise Zweifel daran angemeldet, was der Ältere, er ist Historiker – Spezialgebiet: der Konservatismus im angloamerikanischen Raum – und Blogger – Thema: die Gefahr, die von der Radikalisierung des Konservatismus im angloamerikanischen Raum ausgeht – ihr soeben erzählt hat: Er sei schon mehrfach bedroht worden. „Und vor ein paar Monaten wäre ich fast überfahren worden. Von einem Motorrad.“ Ob das nicht „ein bisschen weit hergeholt“ sei, fragt Phyl daraufhin. Und so soll Christophers Feststellung zunächst einmal plausibel machen, dass es sich bei dem Beinahezusammenstoß mit dem Kraftrad tatsächlich um einen Mordversuch gehandelt hat.
Allerdings geht es in Jonathan Coes neuem Roman „Der Beweis meiner Unschuld“ nicht nur um die tatsächliche oder vermeintliche Gefährlichkeit von radikalisierten Rechtslibertären. Sondern darum, auf welch unterschiedliche Arten und Weisen eine Geschichte erzählt werden kann. „Der Beweis meiner Unschuld“ ist ein Buch über Bücher, nicht zuletzt über ein Buch mit dem Titel „Meine Unschuld“. Die kleine Diskussion findet nämlich vor dem Schaufenster eines Wohlfahrtsladens statt. In der Auslage: „Mord im Pfarrhaus“ oder „Böse Saat: Die Gartencenter-Morde“. Auf einem Buchcover steht: „Ein gemütlicher Murder Mystery für lange Winterabende“. Christophers Kommentar: „Kein anderes Land der Welt würde auf die Idee kommen, brutale Morde als etwas Gemütliches zu bezeichnen. In gewisser Weise ist das sehr britisch.“ Q.e.d.
Bei Phyl löst das nun etwas anderes aus als intendiert. Eigentlich liest sie lieber Dark Academia à la Donna Tartt, erklärt sie wenig später Christophers Adoptivtochter Rashida. Jetzt will sie sich am „Cosy Crime“-Genre versuchen. Egal, dass die neue Freundin eher zu weniger fiktionalen Registern rät und sich umgehend belehrt findet, sie meine doch wohl Autofiktion. Damit sind die drei Genres bezeichnet, die Coe in „Beweis meiner Unschuld“ durchdekliniert. Zunächst also „Cosy Crime“: Christopher Swann, der Blogger, der aufdecken will, dass der Thinktank Consensus die Abschaffung des öffentlichen Gesundheitssystems in Großbritannien betreibt, überlebt nämlich die konservative TrueCon-Tagung nicht, zu der er als Beobachter anreist. Dass die Tagung auf dem Landsitz eines verkrachten Adligen stattfindet, passt zum Genre, schon weil man sich den Hausherrn sehr gut mit Gesicht und Statur Robert Morleys vorstellen kann, Kathrine Hepburns Bruder in „African Queen“, aber auch Hector Enderby, der menschenscheue Millionär und frühe Tote in „Der Wachsblumenstrauß“ mit der wunderbaren Margaret Rutherford als Miss Marple von 1963. An Rutherford/Marple erinnert dann auch die trinkfeste Kommissarin, die bald nach dem Mord am Tagungsort erscheint.
Was diesen Teil von Coes Roman des Weiteren so „cosy“ macht, sind nicht nur die genretypischen, liebevollen Beschreibungen von Haus, Park und Landschaft, sondern auch die intime Kenntnis, die die Protagonisten voneinander haben. Wie Phyls Mutter Joanna sind auch der konservative Roger Wagstaff und sein weiblicher Sidekick Rebecca Wood alte Bekannte Swanns aus Studientagen in Cambridge. Hauptredner der Konferenz ist ein charismatischer Cambridge-Philosoph, der schon in den frühen 1980ern einen Zirkel junger Konservativer um sich gescharrt hatte. Zu Gast in diesen Salons einmal: Ein früh verstorbener Romancier, Autor von „Meine Unschuld“, über dessen Bedeutung für den modernen Konservatismus ein extra aus Venedig eingeflogener Literaturwissenschaftler referieren soll. Und auch der ebenfalls verstorbene Verfasser von Memoiren seiner Studienzeit in Cambridge, die sich in Joannas Besitz befinden und deren Zentrum eine Begegnung mit erwähntem Autor darstellt, ging dort ein und aus.
Mehr Highsmith als Christie
Das Manuskript bildet den zweiten Teil des Romans. Ganz so spannend wie Tartts „Die geheime Geschichte“, in der es um einen blutigen, nietzscheanischen Kult unter Studenten ging, gelingt diese Dark-Academia-Übung Coes zwar nicht. Dennoch meistert er das Genre Campus-Roman mit Bravour – er kann von seinen eigenen Erfahrungen als Student in Cambridge zehren und lässt auch einen verträumten Wiedergänger seiner selbst auftreten, der später einigen Erfolg mit dem Schreiben haben wird. Peter Cockerill, der Autor, auf dessen Lesung im sagenumwobenen Salon dieser Romanteil zuläuft, erinnert darüber hinaus an den Schriftsteller B.S. Johnson, an dessen Wiederentdeckung Coe 2004 mit „Like a Fiery Elephant: The Story of B. S. Johnson“ keinen geringen Anteil hatte.
Der Jagd nach dem einzig verbliebenen unkorrigierten Rezensionsexemplar von Cockerills „Meine Unschuld“ schließlich, die Phyl und Rashida nach Monaco und Venedig führen wird, ist der dritte Romanteil gewidmet. Im Originaltitel von Coes Roman, „Proof of my Innocence“, kann „proof“ nicht nur „Beweis“ bedeuten; „proofs“ sind auch die Fahnen, die Verlage an Rezensenten verschicken. Manchmal unterscheiden sie sich noch geringfügig vom endgültig veröffentlichten Text. Dieser dritte Teil ist „Ein autofiktionaler Essay“ überschrieben, wobei Essay, also „Versuch“, wörtlich zu verstehen ist, handelt es sich doch um einen zweistimmigen Bericht, in dem beide Frauen als Erzählerstimmen auftauchen. Er erinnert mehr an Patricia Highsmith als an Agatha Christie und ist gespickt mit Beobachtungen zur sogenannten Generation Z, der Phyl und Rashida angehören. Rashida etwa outet sich an einer Stelle als asexuell, gemeinsam ist beiden jungen Frauen, dass sie äußerst nachrichtenavers sind – das Handy kommt, wenn nicht Seiten des aufgespürten einzigen „Proofs“ fotografiert werden, nur zum Einsatz, um Folgen von „Friends“ zu bingen – Handys selbst kommen in der amerikanischen Neunziger-Serie nicht vor, was die vor der bösen Wirklichkeit zurückschreckenden jungen Frauen ziemlich beruhigt.
Dass Jonathan Coe, geboren 1961 und somit ein jüngerer Vertreter der Boomer-Generation, nachrichtenavers wäre, kann man als Leser getrost verneinen. Seine Romane zeichnen sich gerade dadurch aus, dass Zeitgeschichte in ihnen immer mitläuft. Nicht aber, um einen „Realitätseffekt“ zu erzielen, wie das Roland Barthes bezüglich der Detailversessenheit von Flauberts Gesellschaftsromanen genannt hat. Coes Gesellschaftsromane leben vielmehr von der engen Verflechtung der erzählten Zeit mit Daten der jüngeren Historie, die immer wieder, oft als Fernsehbilder oder Radioübertragungen, manchmal als Berichtetes oder Miterlebtes in die Erzählung einbrechen, sie punktieren und ihren Rhythmus vorgeben. Die Gegenwart, von der „Der Beweis meiner Unschuld“ erzählt, ist präzise datiert: Es ist die nur 49 Tage dauernde Amtszeit von Liz Truss als britische Premierministerin, in die auch der Tod Königin Elisabeths II. fällt. So springt der literaturwissenschaftliche Nachlassverwalter Peter Cockerills bei der TrueCon-Tagung nicht nur für Truss‘ Schatzkanzler Kwasi Kwarteng als Konferenzredner ein. Sein Vortrag muss auch nach wenigen Minuten unterbrochen werden, als die Nachricht vom Hinscheiden ihrer Majestät das Herrenhaus in der ländlichen und doch so trügerischen Idylle erreicht.
„Der Beweis meiner Unschuld“ ist wie schon Jonathan Coes letzte zwei großen Bücher „Middle England“ und „Bournville“ aber vor allem eins: erstklassiger politischer Roman und unterhaltsamer Lesespaß zugleich. Dass man die Haltung des Autors nicht nur zwischen den Zeilen herauslesen kann – Coe, der in einem konservativen Elternhaus aufwuchs, hegt große Abneigung gegen alles, was sich in Großbritannien seit den Thatcher-Jahren so nennt, zu Unrecht, wie er meint –, tut dem keinen Abbruch, weiß er doch politische Satire und Engagement gut zu dosieren. Und auch, wenn ihm seine Genre-Experimente nicht immer hundertprozentig gelingen – meisterhaft aber muss man Coes Übung in „Cozy Crime“ nennen –, dann beweisen sie in jedem Fall eine große Liebe zu den mannigfaltigen Formen des Literarischen, egal ob high oder low, und dazu, wie sie, auf ihre je ganz eigene Art und Weise, die Welt, in der wir leben, aufschließen können.
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