Während einer Veranstaltung zur Unterstützung des franko-algerischen Schriftstellers und Friedenspreisträgers Boualem Sansal („Das Dorf des Deutschen“) erzählt seine Tochter Sabeha Sansal, dass sie auf einen im April geschriebenen offenen Brief noch keinerlei Antwort aus dem Élysée-Palast erhalten hat. Ihr 80-jähriger, schwer an Krebs erkrankter Vater war am 16. November letzten Jahres bei seiner Ankunft auf dem Flughafen von Algier verhaftet und Ende März 2025 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Ihm werden die Gefährdung der Staatssicherheit und Spionage vorgeworfen. Er habe die „Existenzberechtigung der algerischen Nation“ und ihrer Grenzen infrage gestellt, hieß es bereits zur Begründung der Verhaftung im Winter 2024 aus Algerien. Appelle, die Sansals Anwälten und Emmanuel Macron nach der Urteilsverkündung an den algerischen Präsidenten gerichtet hatten, der Sansal begnadigen könnte, sind bis jetzt verhallt. Sabeha Sansal ruft zu einer internationalen Mobilisierung auf, um auf diese Weise die algerische Regierung zur Freilassung ihres Vaters zu bewegen.

WELT: Ihr Vater sitzt mittlerweile seit neun Monaten in Algerien im Gefängnis. Hatten Sie seit seiner Verhaftung überhaupt Kontakt zu ihm? Erhalten Sie irgendwelche Nachrichten?

Sabeha Sansal: Nein. Wir hatten seit seiner Verhaftung keinerlei Kontakt mit meinem Vater. Keinen Anruf, keinen Brief und noch nicht einmal irgendein Zeichen, das uns in Bezug auf seinen Gesundheitszustand beruhigen könnte. Alles, was wir wissen, erfahren wir über indirekte Kanäle, bruchstückhaft und oft auch eher unsicher. So wie alle anderen. Dieses gänzliche Fehlen einer Kommunikationsmöglichkeit ist mit am schwersten zu ertragen. Sie versetzt uns in einen permanenten Zustand der Angst: Jeden Tag fragen wir uns, wie es ihm geht, ob man ihn gut behandelt, ob er Zugang zu ärztlicher Versorgung hat, falls er sie benötigt und ob er sich seine Kraft und seine Moral bewahrt hat.

All das ist nicht nur für ihn, der dort isoliert ist und dem man dieses Schweigen aufgezwungen hat, eine wahre Tortur, sondern auch für seine Familie, seine Angehörigen und seine Leser, die sich um ihn sorgen, überall auf der Welt. Man lässt uns ganz bewusst im Ungewissen, so als wolle man meinen Vater vom Rest der Welt trennen und ihn nicht nur als Schriftsteller zum Schweigen bringen, sondern auch als Mensch, Ehemann, Vater und Großvater.

Dieses ihm aufgezwungene Schweigen ist in doppelter Hinsicht eine Strafe: Zur Gefangenschaft kommt hinzu, dass man ihn förmlich auslöscht; man hat vor, ihn nicht nur an der Kommunikation zu hindern, sondern ihn symbolisch verschwinden zu lassen. Doch genau das ist es, was wir nicht akzeptieren.

WELT: Im April haben Sie und Ihre Schwester in der Zeitung „Le Figaro“ einen offenen Brief an Emmanuel Macron geschrieben. Haben Sie eine Antwort auf den Brief erhalten? Welches Verhältnis haben Sie heute, vier Monate später, zu den französischen Behörden?

Sansal: Weder ich noch meine Familie oder das internationale Unterstützungs-Komitee haben irgendeine Art von Antwort bekommen. Der Schriftsteller Kamel Bencheikh, ein Freund meines Vaters, hat einen weiteren Brief an den Präsidenten der Republik Frankreich geschrieben, der am 30. Juni 2025 im „Journal du Dimanche“ veröffentlicht wurde. Darin erinnert er ihn daran, wie ernst die Situation ist, dass mein Vater ein Symbol der Meinungsfreiheit ist, und an die moralische Verantwortung Frankreichs, das Land, das seine Arbeit und seine mutige Stimme so oft gelobt und ihm schon vor über einem Jahr die französische Staatsbürgerschaft zuerkannt hat, als Zeichen der Anerkennung. Das bedeutet aber auch, dass Frankreich dazu verpflichtet ist, ihn zu schützen.

Doch obwohl wir öffentlich, offiziell und auf respektvolle Weise vorgegangen sind, hat es nie auch nur die geringste Reaktion gegeben. Kein einziges Wort, kein Zeichen, nicht einmal eine Art Empfangsbestätigung. Dieses Stillschweigen, seitens des Landes der Menschenrechte, hat uns zutiefst verletzt. Wir mischen uns doch in nichts ein. Wir bitten doch nur um ein klares Wort, um eine Geste der Solidarität für einen Schriftsteller, der so viel zum Dialog zwischen den beiden Seiten des Mittelmeers beigetragen hat und dessen einziger „Fehler“ darin bestand, dass er die Wahrheit sagte. Dieses Schweigen macht unser Gefühl der Verlassenheit noch schlimmer. Es zeigt außerdem, wie zerbrechlich und an Bedingungen geknüpft die Verteidigung der Meinungsfreiheit immer noch ist, wenn es um ein diplomatisches Gleichgewicht geht.

WELT: Emmanuel Macron hat Anfang August erklärt, er wolle Algerien gegenüber „eine entschlossenere Position einnehmen“. Ist das Ihrer Ansicht nach die richtige Strategie, um die Freilassung Ihres Vaters zu erreichen?

Sansal: Die erste Strategie von Präsident Macron und seinem Außenminister, die darin bestand, einfach den Kopf zu senken und diplomatisch zu schweigen, hat nicht nur nicht das Geringste bewirkt, sondern gewisse andere auch noch in ihrer Blockade-Haltung bestärkt. Das Regime in Algerien hat nicht nachgegeben, im Gegenteil, es hat sich in seinem Autoritarismus auch noch gestärkt gefühlt. Und eben weil diese Methode gescheitert ist, hat sich der Präsident dann Anfang August dazu entschlossen, einen härteren Ton anzuschlagen und sich dem von Innenminister Bruno Retailleau schon seit Langem eingeschlagenen Kurs anzuschließen: Es ist die Linie, die auch wir und das Unterstützungs-Komitee teilen: die der Entschlossenheit und Klarheit.

Wir sind der Meinung, dass nur ein solcher Kurswechsel zu einem Ausweg führen kann. Nachgiebigkeit erzeugt nur Arroganz, während ein entschlossenes Auftreten daran erinnert, dass Frankreich eine derartige Willkür gegenüber einem seiner anerkanntesten und weltweit geschätzten zeitgenössischen Schriftsteller nicht tolerieren kann. Mit einer solchen Haltung sendet der Präsident der Republik eine unmissverständliche Botschaft: Die Freiheit von Boualem Sansal ist nicht etwa eine Frage von diplomatischen Verhandlungen, sondern eine politische und moralische Forderung.

WELT: Sind Sie im Allgemeinen der Ansicht, dass Frankreich und die internationale Gemeinschaft dieser Herausforderung gewachsen sind?

Sansal: Die Wahrheit ist, dass sich weder Frankreich noch die internationale Gemeinschaft der Tragweite dieser Herausforderung wirklich bewusst sind. Wir reden hier über die Freiheit eines Schriftstellers, eines weltweit anerkannten Intellektuellen, der die Stimme eines freien Algeriens verkörpert, und eines auf sein kulturelles Erbe stolzes Frankreich, und der sich heute in Geiselhaft befindet.

Frankreich hat viel zu lange den Eindruck erweckt, den Fall mit Vorsicht behandeln zu wollen oder dass er ihm sogar peinlich sei, so als könne man den Fall eines Schriftstellers im Namen diplomatischer oder wirtschaftlicher Überlegungen sogar opfern. Weder das Schweigen noch das Abwarten oder die Diplomatie der Zurückhaltung haben irgendwelche Erfolge gebracht. Und was die internationale Gemeinschaft betrifft, so hat sie sich auf eher zaghafte Verurteilungen beschränkt, ohne je wirklich politischen Druck auf Algier auszuüben. Natürlich haben wir uns über die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments sowie des französischen und des belgischen Parlaments für die Freilassung unseres Vaters gefreut. Ebenso wie darüber, dass Hunderte Bürgermeister in Frankreich an der von David Lisnard, dem Bürgermeister von Cannes ins Leben gerufenen Aktion „Je lis Sansal“ (Ich lese Sansal) teilgenommen haben – und einer dieser Bürgermeister einen Platz in seiner Stadt nach unserem Vater benannt hat. Doch all diese Appelle sind trotz des Ansehens ihrer Befürworter völlig wirkungslos geblieben.

Es geht hier doch auch um viel mehr als nur den Fall Boualem Sansal: All das betrifft die Redefreiheit, die Menschenwürde und die Achtung des Völkerrechts. Wenn man einen Schriftsteller mundtot macht, greift man das universelle Recht an. Deshalb erwarten wir von Frankreich und seinen Partnern, dass sie diese Affäre endlich nicht mehr als zweitrangig betrachten. Wir brauchen eine breite internationale Mobilisierung, damit wir das algerische Regime dazu bringen können, meinen Vater nicht mehr länger zu quälen und ihn freizulassen, bevor es womöglich zu spät ist.

WELT: Sie haben auch an den algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune geschrieben. Hat er Ihnen geantwortet? Sind Sie mit den algerischen Behörden in Kontakt?

Sansal: Ich habe von Präsident Tebboune keinerlei Antwort bekommen und werde zweifellos auch nie eine erhalten. Das gehört zur Logik eines Regimes, das keinen Dialog will. Das Schweigen ist ihre Art, Verachtung zu zeigen und weiterhin willkürliche Entscheidungen zu treffen.

Ich habe auch keinen Kontakt mit den algerischen Behörden. Die Machthaber riegeln sich ab und bleiben im Dunkeln. Sie versuchen nicht, etwas zu erklären oder zu rechtfertigen, sie erwecken noch nicht einmal den Anschein eines legalen Verfahrens. Alles wird irgendwo im Dunkeln entschieden, von Transparenz ist keine Rede, so als wäre mein Vater nur eine Spielfigur in einem politischen Spiel, dass sich einfach über Gesetze und Grundrechte hinwegsetzt.

Dieses Stillschweigen ist eine ganz klare Ansage: Das algerische Regime will zeigen, dass es niemandem Rechenschaft schuldig ist. Es offenbart aber auch seine Schwäche, denn wer den Dialog verweigert, der gibt zu, dass er keine wirklichen Argumente hat.

WELT: Welche Botschaft würden Sie heute gern an die algerischen und französischen Regierungsstellen richten?

Sansal: Ich möchte mich vor allem herzlich beim internationalen Unterstützungs-Komitee bedanken, und bei denjenigen, die nun schon seit Monaten mit all ihrer Zeit und ihrer Energie dafür sorgen, dass die Stimme meines Vaters auch über die Gefängnismauern hinweg immer noch zu hören ist. Ihnen ist es zu verdanken, dass sein Name nicht in der Versenkung verschwindet. Dank ihrer Mobilisierung und den Versammlungen, die in so vielen Städten wie zum Beispiel Paris, Brüssel, Straßburg, Montreal und noch vielen weiteren organisiert wurden, ist diese Affäre nicht in Vergessenheit geraten, wie es einige, vor allem aber im algerischen Regime gern hätten. Nationale Parlamente und sogar das Europäische Parlament haben Resolutionen verabschiedet, in denen seine Freilassung gefordert wird. All das wäre ohne diese Hartnäckigkeit, die Solidarität und die Entschlossenheit dieses Unterstützungs-Netzwerks unmöglich gewesen. Danke an alle, die so unermüdlich sind, die sich nicht entmutigen lassen und dank ihres Engagements die Flamme der Hoffnung am Leben erhalten.

Die französische Regierung möchte ich an eine viel zu oft vergessene Tatsache erinnern: Mein Vater ist französischer Staatsbürger und damit auch Europäer. Frankreich hat also eine besondere Verpflichtung, ihn zu schützen. Es ist nicht annehmbar, dass ein französischer Staatsbürger, dessen einziges „Vergehen“ darin besteht, dass er frei und offen geschrieben hat, dem Schweigen eines autoritären Regimes überlassen wird. Frankreich muss beweisen, dass es seiner Geschichte und seinen Werten gerecht wird. Und es darf sich nicht mit einer höflichen Entrüstung begnügen: Es muss diese Affäre als diplomatische und moralische Priorität behandeln.

Den Europäern (ich selbst komme aus Prag) möchte ich sagen, dass sie über ihre Institutionen alle ihnen zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung setzen sollten, angefangen beim Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Algerien, um das algerische Regime an die in diesem Abkommen festgehaltenen Verpflichtungen zu erinnern.

Den algerischen Machthabern will ich Folgendes sagen: Mein Vater hat nie etwas anderes sein wollen als Schriftsteller. Er hat nie mit einer Waffe, sondern immer nur mit Worten gehandelt, und diese Worte stehen nicht nur unter dem Schutz der internationalen Konventionen, sondern auch der algerischen Verfassung selbst, die die Meinungsfreiheit garantiert. Ihn ins Gefängnis zu sperren bedeutet, eure eigenen Grundgesetze zu verletzen und eure eigenen Werte zu leugnen. Die ganze Welt sieht diesen Widerspruch – und die ganze Welt wird ihn verurteilen.

Dieses Interview erschien zuerst bei „Le Figaro“, wie WELT Mitglied der Leading European Newspaper Alliance (Lena). Übersetzt von Bettina Schneider.

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