Einer der innovativsten Kunsthistoriker würde am 6. September 100 Jahre alt – der 1988 verstorbene Max Imdahl. Der sehende Intellektuelle, der brillante Interpretationsrhetoriker, der in Kunst Denkende der Forschergruppe Poetik und Hermeneutik. Der, der Giottos Arenafresken in Padua neu deutete. Der, der durch die Kunst der Moderne sensibilisierte, die Kunst der Tradition erweiternd erschloss.
Als früh geförderter Maler war er der künstlerischste Vertreter einer immer selbstreferenzieller gewordenen Kunstgeschichte. Max Imdahl war, um ein Bonmont des auch vogelkundlich interessierten US-amerikanischen Malers Barnett Newman anzuführen, demzufolge die Ästhetik für Künstler das sei, was „die Ornithologie für die Vögel ist“, der vogelnahe Vogelliebhaber unter den vogelentfremdeten Ornithologen.
Eine bewährte Methode der Kunstgeschichte ist es, aufzuzeigen, wo dieses oder jenes künstlerische Phänomen seine Wurzeln hat. Dies kann man „konservativ“ nennen. Die Umkehrung kommt meist zu kurz: sich die Wurzeln neu anzuschauen, indem man Erfahrungen aus dem Wahrnehmen der nachgewachsenen Triebe aufs Tradierte einspiegelt. Fraglos ist dies „progressiv“. In der klassischen Musik, der Imdahl tief verbunden war, scheint das selbstverständlicher. Auf neusten Flügeln ertönen jahrhundertferne Kompositionen. Imdahl forderte eine „Art Werkaufführung“ der Kunst.
Das basierte auf Erfahrungen. Künstlerisch der, dass Kunst durch ihre Gegenstandsfreiwerdung aus sich heraus fordert, Werk für Werk als ein je befragungswürdiges Gegenüber gesehen zu werden. Und zeitgeschichtlich der, dass 1968 durch die Gründung des Ulmer Vereins als Gegenentwurf zum Verband der Deutschen Kunsthistoriker zu einem Marsch durch die Institute aufgerufen wurde. „Vieles“, so heißt es heute auf der Website des Vereins, „worüber damals vehement debattiert wurde, ist längst zum Kanon der Kunst- und Kulturwissenschaften geworden: Politische Bildkultur, Kunstgeschichte als Bildwissenschaft, Gender- sowie Postcolonial Studies, kulturpolitische Diskurse und neue bildtheoretische Modelle – was auch ein Verdienst der ersten Generationen von Mitgliedern des Ulmer Vereins ist.“
Nicht modeproletarisiert
„Ich komme nicht aus einer Arbeiterfamilie“, war Imdahls lakonische Antwort auf die Frage von Studenten, aus welchen Verhältnissen er stamme. Aber er lebte im Ruhrgebiet, in Bochum. Er mochte die bisweilen unflätige Direktheit der sich akademisierenden Arbeiterkinder. So schlug er auch 1977 einen Ruf nach Zürich aus. Er redete lieber mit Arbeitern als über sie. Seine Seminare „Arbeiter diskutieren moderne Kunst“ bei Bayer in Leverkusen bewiesen es.
Anstatt sich als bürgerlich Sozialisierter modeproletarisiert und „selbstviktimiert“ (Peter Trawny) zu orientieren, antizipierte er intellektuell, was kommen wird, wenn das genuin Künstlerische der Kunstbetrachtung abhandenkommt, etwa in der Werkblindheit der agitierenden Kommunarden in den 1970er-Jahren. Der in Aachen geborene Imdahl begegnete dieser Ignoranz rheinisch-katholisch tolerant. So führte er auch sein Bochumer Institut. Hier wurde kontrovers diskutiert sowie unideologisch berufen. Es galt nur ein Maßstab: intellektuelle Qualität!
Der methodische Zeitgeist wehte aber aus einer anderen Richtung. Geschätzte Kollegen wie Oskar Bätschmann oder Gottfried Boehm gingen in die Schweiz. Erwin Panofkys „Idea“ von 1924, das Manifest der Ikonologie, erfuhr eine postume Hausse genauso wie Marcel Duchamps „Fountain“ (1917), die Ikone der handwerklichen Nichtkönnerschaft. Beide frönen nicht dem Primat des sehenden Erkennens, sondern dem Staunen über eine Idee.
Imdahl nannte es Ikonik
Dieser Entfremdung stellte sich Imdahl entgegen. Er konnte sich nicht einmal auf dem Beifahrersitz eines VW-Käfers anschnallen, ohne dabei an Laokoons „Telefonarm“ zu denken. Er forderte genuine Seherfahrungen. Aus ihnen schlussfolgerte er mit Argumenten. Er dachte autonom. Um seinen Gegenentwurf aufs Gleis zu setzen, rückte er zeitgeistig subalternisierte Werte wieder in die Mitte: Koloristik, Komposition, planimetrische Ordnung, Bildlichkeit und werkgrammatische Plausibilität.
Sein kunst-kybernetisches, an den Fresken Giottos anschaulich gewordenes Vorgehen nannte Imdahl Ikonik. Er zog alle ikonografischen, ikonologischen und sonstigen Akzidenzien mit in Betracht. Aber eben nur „mit“. Kontext ist halt nur Kon-Text. Das Kunstwerk ist die allein gültige Instanz. So vollzog er am Werk „sokratisch“ (Hubertus Kohle) sein nie endendes Dialogisieren von „sehendem Sehen“ und Denken. Wissen schaffend!
Wir sind am Kern dieser apologetischen Erinnerungen angekommen. Max Imdahl veröffentliche seinen Aufsatz zur Mannalese des Nicolas Poussin im Jahre 1985. Vierzehn Jahre zuvor, im Jahre 1971, publizierte er seine Werkmonografie zu Barnett Newmans Riesenbild (2,45 Meter hoch, 5,44 Meter breit) „Who’s afraid of red, yellow and blue“.
Wie beeinflusste das Sehen der „Anschauungstatsache“ Newmans die „szenische Vision“ der Mannalese? Was haben diese beiden Aufsätze miteinander zu tun? Imdahl bezieht sich in seinem Poussin-Aufsatz nicht auf seinen früheren zu Newman. Offen sichtlich aber haben die beiden Aufsätze mehr miteinander zu tun, als es offensichtlich scheint.
Denn das Sehen der „Farbtriade“ in Poussins Gemälde initiiert Imdahls Deuten. Im Aktionszentrum, in dem Moses von Gott das Manna für die hungernden Israeliten erfleht, herrscht ein Rot-Blau. Durch die Farben Gelb und Blau im Vordergrund wird das Ineins von Vorher und Nachher herausgehoben. Links die von Plinius bekannte Caritas-Romana-Gruppe – eine Mutter, die vor den Augen ihres Kindes ihrer alten verhungernden Mutter die Brust reicht und zugleich das Kind schmerzlich tröstet, dem sie ihre Milch vorenthält. Und rechts, ebenso in Gelb-Blau, die zweite junge Mutter mit Kind, die einen Jüngling mit schon gefülltem Korb nach links auf die Hungernden hinweist. In der Mitte folglich der Initialmoment des Wunders, links der existenzielle Grund und rechts die erlösenden Folgen:
„Man kann eine solche nur bildmögliche, das Ungleichzeitige und das Gleichzeitige ineinander verschränkende Zielstruktur weder angemessen erzählen noch auch – woran man heutzutage vielleicht denken möchte – filmen. Sie ist gebunden an die Dauerpräsenz eines Bildes.“
Was kompliziert klingt, muss aber auch verständlich formuliert werden können. Imdahl erwirkte bei dem Vorsitzenden des wissenschaftlichen Teams für das Funkkolleg Kunst, seinem geschätzten Bochumer Kollegen Werner Busch, dass das Bild Poussins auch hermeneutisch betrachtet wird. Mit der aus seinen Vorlesungen und Seminaren nicht wegzudenkenden Verve schließt er dann für die Fernstudierenden: „Es gibt nichts, das nicht eine eindringliche Anschauung erfordert und verdient, und vielleicht wird sich der Bildbeschauer zunehmend dessen bewusst, dass er die Anschauung nicht eigentlich abschließen, sondern nur abbrechen kann.“
Farbtrias-Sensibilität
Wie kam es zu dieser Farbtrias-Sensibilität? Imdahl war Mitglied im Rat für die Documenta 4, 1968. Ein weiteres Mitglied dieses Gremiums war Arnold Rüdlinger. Der allerdings verstarb bereits im November 1967. Rüdlinger war Konservator am bis 1961 von Georg Schmidt geführten Kunstmuseum Basel. Schmidt war es gewesen, der Imdahl 1949 durch Schweizer Sammlungen geführt hatte, wo er, wie der Kunsthistoriker in seiner späteren „Autobiografie“ vermerkte, „eine Überfülle an modernen Bildern sehen konnte“. Rüdlinger wiederum war es, der dafür gesorgt hatte, dass mit „Day Before One“ erstmals ein Werk Newmans in eine Museumssammlung gelangte. In die des Basler Kunstmuseums.
Zur Beerdigung Rüdlingers kam nicht nur Imdahl in die Schweiz, sondern auch Barnett Newman: die einzige Begegnung der beiden. Auch der Außenseiter der Kunstgeschichte Kurt Badt sei bei der Beerdigung anwesend gewesen. Dieser gab 1969 sein zweibändiges Werk zu Poussin heraus, das ein eigenes Kapitel zum „Gleichgewicht der Primärfarben-Trias“ enthält. Ebenfalls 1969 erwarb das Amsterdamer Stedelijk Museum Newmans „Who’s afraid of red, yellow and blue“. Imdahl fuhr nach Amsterdam und verfasste 1971 die erste das Werk würdigende Bildmonografie.
Imdahls wohl meistzitierte Schrift zur Kunst der Moderne war ein Meilenstein. Er phänomenologisierte über ein gerade einmal drei Jahre altes Werk, das „lediglich“ eine über fünf Meter breite rote Fläche zu sehen gibt, die von einem schmalen blauen Streifen am linken und einem noch schmaleren gelben am rechten gegrenzt ist: „Die Konfrontation mit dieser Totalität soll den Betrachter emotionalisieren und ihn zu sich selbst bringen.“
Die behauptete Emotionalisierung des Betrachters saß tief in ihm: die Farbtrias als ein überwältigendes autonomes Etwas! Der Kunsthistoriker zeigte in seinem Bochumer Hörsaal nicht nur seine Betroffenheit, sondern verstand das Riesenbild auch als Deutungsgrund für Poussins Mannalese.
Doch Imdahl wäre nicht Imdahl gewesen, hätte er nicht den erkenntnisreichen Schritt aus seiner Kunstgegenwart in die Geschichte mit nunmehr erweiterter Perspektive auch wieder in die umgekehrte Richtung gewendet. In seinen Aufsatz „Bild – Totalität und Fragment“, seiner Deutung von Newmans „Jericho“ (1968-69), vollzieht er diese Wendung. Nun gleichsam sensibilisiert durch sein ikonisches Theoretisieren angesichts von Giotto und Poussin verdichtet er sein Deuten der sogenannt gegenstandfreien Kunst. Die Form wird nunmehr als sinnstiftender Gehalt interpretiert.
Ehrung für den toten Beuys
Das sokratische Dialogisieren pflegte Imdahl nachdrücklich. Er ließ Holbeins Basler Christus von einem Anatom betrachten, die Figurengruppen im Kodex Egberti von Norbert Kricke im Experiment positionieren oder den Unterschied zwischen einer schlecht gestrichenen Tür und einem Bild von Raimund Girke durch Studierende diskutieren. Er betrieb, wie er wiederum Studenten gegenüber betonte, Kunstgeschichte eben „für die Kunst, das ist ganz klar“.
Ein Nekrolog mag den Anspruch von Imdahls autonomiebasierter Kunstsicht weiter veranschaulichen: Am 23. Januar 1986 starb Joseph Beuys. Beuys hatte Imdahl einmal ob seines Katholizismus’ desavouiert. Gleichwohl forderte der Kunsthistoriker am Nachmittag alle im Hörsaal auf, sich zum Andenken zu erheben. Und in Abänderung des eigentlichen Themas sinnierte Imdahl öffentlich über den Postkartensatz „Wer nicht denken will, fliegt ‚sich selbst‘ raus“: Dass Denken und Sehen auch gesellschaftlich existenzielle Lebensaufgaben seien, für die die Kunst exemplarisch auch auf intellektuell höchstem Niveau erkenntnisanbietend steht, stellte Imdahl heraus. Und: dass sich dieser Lebensaufgabe zu verweigern zur Folge hat, nicht teilnehmen zu dürfen! Progressiver Konservatismus ohne „Sinn-Defizit“ (Karl Heinz Bohrer) ist offensichtlich zeitlos!
Als einer der letzten studentischen Mitarbeiter Imdahls promovierte Raimund Stecker zu Newmans Kreuzweg. Eine wissenschaftliche Würdigung Imdahls erscheint in dem von Stefan Oehm bei Velbrück Wissenschaft im Oktober erscheinenden Sammelband „Kann Kunst autonom sein?“.
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