Es gibt Filme, die treten im Gewand der Unschuld auf. Sie geben vor, nichts zu wollen als Zeugnis abzulegen vom Leid. Sie tragen die Maske des Pazifismus, während sie doch das Gegenteil bewirken. „The Voice of Hind Rajab“ der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania, zu sehen gegen Ende des Wettbewerbs von Venedig, gehört zu dieser Sorte. Oberflächlich betrachtet verzichtet er auf die billigen Mechanismen des Betroffenheitskinos: keine Streichermusik, kein Anklagepathos. Stattdessen eine beharrliche Kargheit. Doch die täuscht. Sie geht im minimalistischen Büßerkleid des Dokumentarischen, ist in Wahrheit aber die Tarnuniform eines Films, der insgeheim radikal Partei ergreift.
Wir sind und bleiben in der Zentrale des Roten Halbmonds im Westjordanland. Zwei Mitarbeiter spielen Schnick, Schnack, Schnuck. Dann der Anruf eines verzweifelten Angehörigen: Ein fünfjähriges Mädchen, Hind Rajab, sitzt eingeschlossen in einem Auto in Gaza, umgeben von den Leichen ihrer Angehörigen, während israelische Panzer heranrollen. Natürlich dauert es eine Weile – was wohl wahrheitsgetreu ist, aber auch nicht ohne dramaturgischen Effekt – bis all diese Informationen angekommen sind. Das Kind ist geschockt und antwortet einsilbig, immer wieder bricht die Verbindung ab.
Das Telefonprotokoll ist echt, der Titel der Aufnahmen wird eingeblendet, darin das Datum: 29. Januar 2024. Sogar die Stimme des Kindes wird unverfälscht wiedergegeben – verängstigt, zart und unendlich verletzlich. Schon darin liegt manipulative Wucht. Wir hören die Schüsse über die Leitung, bezeugen Hinds Verzweiflung. Leicht identifiziert sich der Zuschauer mit den Mitarbeitern der Hilfsorganisation, die nichts tun können, außer gut zureden, warten, hoffen, beten.
Es wird überhaupt viel gebetet. Fotos im Einsatz getöteter Sanitäter hängen als „Märtyrer des Roten Halbmonds“ an der Wand. Die israelischen Soldaten treten nur über abgedämpfte Explosionen in Erscheinung. Schließlich gibt es das ersehnte grüne Licht für eine Ambulanz – und dann, 500 Meter vor dem Ziel, einen dumpfen Knall. Die Verbindung bricht ab. Zwölf Tage später, als die israelische Armee abzieht, zeigt sich: Eine Panzerkanone hat die Ambulanz zerschmettert, Hind und die Sanitäter sind tot.
Hollywoodisierung des Mitgefühls
Das ist die dramaturgische Konstruktion. Sie folgt der Chronik eines angekündigten Todes, ohne Kontext oder Grautöne. Wir verschmelzen mit der Perspektive des rettungslos verlorenen Kindes und seiner verhinderten Helfer. Das Leid wird zum absoluten Bezugspunkt. Alles, was dieses Leid erklärt, verschiebt, relativiert, bleibt ausgespart. Dass die Hamas Geiseln hält, Raketen abfeuert und ihre Terrorstrukturen fortdauern – im Film kommt es nicht vor. Er betreibt eine Ikonografie seines unschuldigen Opfers, mit dem man nur mitleiden kann. Seine Botschaft wirkt wie ein lauterer, naiver Appell an die Menschlichkeit. Doch insgeheim zielt er auf den Effekt.
Der stellt sich erwartungsgemäß ein. Bei der Premiere in Venedig bricht der Saal in nicht enden wollenden Applaus aus. 23 Minuten Standing Ovations, Kritiker sprechen von „einem der dringlichsten Beiträge“ des Festivals, Zuschauer weinen hemmungslos. Brad Pitt, Joaquin Phoenix, Alfonso Cuarón sind als Produzenten an Bord, Phoenix und seine Frau Rooney Mara umarmen die Schauspieler. Das verleiht dem Film eine klebrige moralische Gravitas, die sich um die bescheidene ästhetische Qualität nicht schert. Man könnte es Hollywoodisierung des Mitgefühls nennen.
Doch wenn ein Film sich wesentlich auf das Pathos realer Aufnahmen stützt und seine künstlerische Form vernachlässigt, wenn Spiel und Inszenierung so schwach und holprig sind, dass der erwartete Schrecken vergleichsweise abgedämpft wird, dann muss man auch das benennen. „The Voice of Hind Rajab“ ist weder klug montiert noch visuell zwingend. Er tarnt politische Intervention als Kino. Seine moralische Geste tut friedlich und beansprucht zugleich Hoheit über die Tränendrüsen.
Kalkuliertes Entsetzen
Dass er im Wettbewerb des Festivals steht, ist ein Statement. Gerade weil die Konkurrenz oft blass wirkt, sticht Ben Hanias Beitrag als Fanal heraus. Draußen marschierten vor ein paar Tagen Tausende Demonstranten mit palästinensischen Fahnen über die Strandpromenade, hitzig wurden vom Festival Stellungnahmen zum Gaza-Krieg verlangt. In dieser Gemengelage ist ein Preis für „The Voice of Hind Rajab“ keineswegs ausgeschlossen. Im Gegenteil: Jurys lieben es, wenn Kunst und Aktivismus Hand in Hand gehen – zuletzt in Cannes, wo der Iraner Jafar Panahi geehrt wurde.
Natürlich hat „The Voice of Hind Rajab“ seine Berechtigung, als parteiisches Statement einer Regisseurin, die noch ganz anders gekonnt hätte. Er darf auch auf einem großen Festival laufen, das Vielstimmigkeit und Multiperspektivität verspricht. Wer ihn aber auszeichnet, macht sich zum Komplizen einer gefährlichen Einseitigkeit. Ja, die Stimme des Mädchens ist erschütternd, aber sie wird instrumentalisiert. Die Regisseurin selbst sprach es aus: „Als ich das erste Mal die Stimme von Hind Rajab hörte, war da etwas, das über ihre Worte hinausging. Es war die Stimme von Gaza selbst, die um Hilfe rief.“
„The Voice of Hind Rajab“ zeigt, wie dünn die Linie zwischen Zeugenschaft und Agitation sein kann. Was sich als Pazifismus ausgibt, wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Das Entsetzen ist kalkuliert. So wird das Kino um seine Würde gebracht, die in der Ambivalenz liegt. Es wird als Tribunal missbraucht, bei dem das Urteil längst feststeht.
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