In diesem Jahr sind die Philippinen das Gastland bei der Frankfurter Buchmesse. Neben literarischen Stimmen gibt es interessante Sachbücher zu entdecken. Herausragend ist das Werk von Patricia Evangelista. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen des philippinischen Journalismus. Über viele Jahre berichtete sie für die Website Rappler und internationale Medien über die Opfer des sogenannten „Drogenkriegs“, den der damalige Präsident Rodrigo Duterte ab 2016 entfesselte. Ihre Reportagen aus nächtlichen Hinterhöfen, von Polizeieinsätzen und Beerdigungen machten sie international bekannt – und zugleich zu einer Chronistin der Gewalt, die ihr Land geprägt hat.
In ihrem Buch „Some People Need Killing“ („Manche Menschen muss man töten“) verbindet sie Reportage mit Memoir. Sie zeigt, wie Propaganda, Euphemismus und Geschichtsblindheit eine Atmosphäre schufen, in der zehntausende Menschen getötet wurden – und wie sie persönlich mit dieser Arbeit umgegangen ist. Bei Culturbooks erscheint das Werk nun auch auf Deutsch. WELT traf Evangelista in ihrer Wohnung in Manila.
WELT: Frau Evangelista, viele Leserinnen und Leser in Deutschland wissen nur wenig über den Drogenkrieg auf den Philippinen. Was ist der größte Irrtum, den Sie ausräumen möchten?
Patricia Evangelista: Die wichtigste Klarstellung ist: Ja, es stimmt, die Philippinen haben ein Drogenproblem – wie viele Länder. Aber die offiziellen Zahlen zeigen, dass der Konsum weniger als die Hälfte des globalen Durchschnitts beträgt. Das rechtfertigt nicht den massenhaften Tod von Bürgern. Rodrigo Duterte gewann 2016, weil er versprach: „Ich werde für euch töten.“ Er erzählte eine Geschichte, die jedes Problem des Landes – Armut, Kriminalität, Korruption – auf die Drogen zurückführte.
WELT: Hätte er sich nicht auf andere Probleme konzentrieren können – Korruption, Wohnungsnot, Armut?
Evangelista: Natürlich. Aber jeder Autokrat braucht einen Feind, und dafür hielten vermeintliche Drogenabhängige und Dealer her. Er versprach nicht nur Drogen, sondern auch Kriminalität, Korruption in sechs Monaten zu beseitigen. Am Ende seiner Amtszeit war klar: Nichts davon ist gelungen. Aber er blieb populär, weil er ein außergewöhnlich guter Geschichtenerzähler ist.
WELT: Heute sitzt Duterte vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Wie reagiert die Bevölkerung darauf?
Evangelista: Das Land ist gespalten. Für die Opferfamilien bedeutet es eine Form von Gerechtigkeit. Aber sie leben weiter mit dem Trauma – ein Ehemann, ein Vater, ein Sohn kommt nie zurück. Für viele andere bleibt Duterte ein Held. Seine Familie ist weiterhin einflussreich, seine Tochter, Sara Duterte, ist die derzeitige Vizepräsidentin der Philippinen. Rodrigo Duterte wurde während seiner Haftzeit zum Bürgermeister der Stadt Davao gewählt. Seine Verhaftung brachte ihm also auch Sympathiepunkte. Man darf nicht unterschätzen, wie stark die Duterte-Dynastie politisch verankert ist.
WELT: Wie viele Menschen wurden getötet?
Evangelista: Die Regierung spricht von rund 6200 „legitimen Polizeieinsätzen“. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu 30.000 Toten aus, solche von unbekannten Mördern und Selbstjustizlern miteingenommen. Es herrschte weitgehende Straflosigkeit.
WELT: Wer waren die Selbstjustizler und Gangmitglieder, die getötet haben?
Evangelista: Ich habe einige interviewt. Manche gaben an, im Auftrag der Polizei zu töten, andere für Geld, wieder andere aus Überzeugung. Einer sagte mir: „Es war nicht das Geld. Ich wollte, dass meine Kinder in einer besseren Welt aufwachsen.“ Das war das Argument: Manche Menschen müssen sterben, damit andere leben können.
WELT: Woher stammt der Titel Ihres Buchs „Some people need killing“?
Evangelista: Ein Mann, den ich „Simon“ nenne, erzählte mir: Am Anfang hatte er Angst zu töten, dann wurde es normal, fast wie eine Sucht. Er sagte: „Ich bin kein schlechter Mensch. Ich habe eine Familie, gehe in die Kirche. Aber manche Leute müssen sterben.“ In diesem Satz steckt der Kern des Drogenkriegs: Es ist kein Mord, sondern vermeintliche Gerechtigkeit.
WELT: Sie schreiben auch über die Bedeutung von Sprache. Warum?
Evangelista: Sprache macht Gewalt möglich. In den Philippinen ist ein „Encounter“ kein zufälliges Treffen, sondern eine Tötung durch die Polizei. „Salvage“ heißt eigentlich „retten“. Bei uns bedeutet es: exekutieren. Es bedeutet, dass jemand getötet, gefoltert und seine Leiche auf einem öffentlichen Platz abgelegt wurde, sei es an einer Straßenecke, vor einem Convenience Store oder auf einer Brücke. Normalerweise ist der Kopf mit Klebeband umwickelt. Neben der Leiche steht ein Schild mit der Aufschrift „Drogenhändler, nicht nachmachen“ oder je nach Zeit und Ort könnte es auch etwas anderes sein. „Encounter“ und „Salvage“ sind Wörter, die im Alltag harmlos klingen, doch hier werden sie zu Euphemismen für Mord. Sie schaffen eine Distanz, die das Töten legitim erscheinen lässt.
WELT: Wie erklären Sie sich psychologisch, dass Menschen das akzeptieren?
Evangelista: Duterte nannte Dealer „Zombies“, „Monster“, „Ungeheuer“. Wenn man Menschen entmenschlicht, erscheinen ihre Tode weniger tragisch. Judith Butler hat das einmal so beschrieben: Manche Leben gelten als betrauernswert, andere nicht. Auf den Philippinen waren Süchtige und Dealer plötzlich Leben, die niemand zu betrauern hatte. Süchtige und Dealer waren keine Menschen mehr. Sie wurden entmenschlicht.
WELT: Wie wurde entschieden, wer getötet wird?
Evangelista: Jedes Dorf führte eine „Watchlist“. Namen wurden von Nachbarn eingetragen, von Lokalbeamten, von anonymen Hinweisgebern. Manche Dörfer hatten Briefkästen, in die man Zettel werfen konnte. Oft ohne Überprüfung. In einem Fall ließ man die Bürger in einer Turnhalle abstimmen, wer der schlimmste Dealer sei – wenige Tage später war der Mann tot.
WELT: Sie haben die Angehörigen über Jahre begleitet. Wie belastend war das für Sie persönlich?
Evangelista: Es war schwer. Ich habe geraucht, getrunken, kaum geschlafen. Aber ich war nicht allein. Wir waren eine Gruppe von Reportern, Fotografen und Filmemachern, die gemeinsam über den Drogenkrieg berichteten. Wir haben uns gegenseitig gestützt. Ohne das wäre es nicht gegangen.
WELT: Gab es Szenen, die Sie nicht veröffentlichen konnten?
Evangelista: Viele Gespräche waren vertraulich. Manche Opfer wollten ihre Geschichten später zurückziehen. Eine Frau bat mich kurz vor Drucklegung, den Namen ihres Sohnes zu streichen. Ich erklärte, dass die Geschichte dann jemand anderem „gehören“ würde. Darauf sagte sie: „Niemand soll den Tod meines Sohnes stehlen.“ Also blieb ihr Name im Buch.
WELT: War es gefährlich für Sie selbst?
Evangelista: Obwohl es nicht immer sicher ist, war die Gefahr für die Quellen und Subjekte immer weitaus größer. Generell ist Journalismus auf den Philippinen nie sicher. Denken Sie an das Massaker von Maguindanao 2009, bei dem mehr als 30 Reporter starben. Auch in den letzten Jahren wurden Kolleginnen und Kollegen ermordet. Ich treffe Vorsichtsmaßnahmen, aber sicher ist es nicht.
WELT: Warum haben Sie sich entschieden, in Ihrem Buch auch in der ersten Person zu schreiben?
Evangelista: Ich wollte es eigentlich nicht. Aber mein Verlag bestand darauf. Für ein internationales Publikum braucht es eine Stimme, die durch das Grauen führt. Am Ende war es richtig. Es machte mich verantwortlich: Ich bin nicht nur Journalistin, ich bin auch Bürgerin. Dieses Morden geschah in meiner Lebenszeit, in meinem Land.
WELT: Was können deutsche Leserinnen und Leser aus Ihrem Buch lernen?
Evangelista: Dass man Autokraten glauben muss, wenn sie ankündigen, zu töten. Wenn sie im Wahlkampf Frauen beleidigen, werden sie es in der Macht tun. Wenn sie sagen, sie werden die Presse einschränken, werden sie es tun. Jede Grenzverschiebung wird hingenommen – bis nichts mehr schockiert. Deshalb muss man immer Nein sagen, auch am Anfang.
WELT: Heute regieren die Kinder zweier ehemaliger Diktatoren, Ferdinand Marcos Jr. und Sara Duterte. Wieso vergessen die Filipinos so schnell?
Evangelista: Weil die Vergangenheit nie aufgearbeitet wurde. Es gab keine Entschuldigung, kein Eingeständnis von Schuld. So konnte man die Diktatur der 1970er-Jahre und den Drogenkrieg als „goldene Zeiten“ verklären. Kinder wuchsen auf mit der Vorstellung, so müsse Politik aussehen. Solange wir die Vergangenheit nicht aufarbeiten, wird sie sich wiederholen.
WELT: Zum Schluss: Die Philippinen sind dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Was erwartet die internationale Leserschaft von philippinischer Literatur?
Evangelista: Große Geschichten, viele davon in der Fantasy und spekulativen Fiktion. Ich selbst schreibe nur Nonfiction, aber was unsere Literaturszene hervorbringt, ist vielfältig und stark. Frankfurt wird das zeigen.
Patricia Evangelista: Some People Need Killing. Eine Geschichte der Morde in meinem Land. Aus dem Englischen von Zoë Beck. Culture Books, 456 Seiten, 28 Euro.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.