Freundlicher, älterer Herr. Weißes Hemd, gestärkte Manschetten. So ganz ohne Künstlerauffälligkeit, ohne all die Reizmittel, mit denen die Kunst ihre Triumphe über die Nichtkunst zu feiern pflegt. Südafrikaner. Weißer. Der Vater Rechtsanwalt, hat Nelson Mandela verteidigt und die Familie von Steve Biko. Man wird von William Kentridge nicht erwarten dürfen, dass sein schwarzweißes Zeichnen, diese unaufhaltsame Drift mit dem Kohlestift anderswoher stammt als aus dem gelebten Leben. Und wenn Zeichnen auch immer eine Weise des Vergegenwärtigens und des Abstandschaffens zugleich ist, dann kreist das Lebensthema doch immerzu um Erfahrungen, mit denen es grundiert ist. Gewalt, Zerstörung, Knechtschaft, Tyrannis, Aufstand, Verbundenheit im Kampf - es ist wie Hall, der durch das Werk zieht. „Listen to the Echo“ nennt Kentridge die große Doppelausstellung, die ihm Essen und Dresden eingerichtet haben.
Die Erschütterungen, die da nachbeben – Apartheid, das Schicksal der Arbeiter in den Goldminen, die Erinnerungen an die koloniale Vergangenheit, der Völkermord an den indigenen Hereros durch deutsche Truppen - halten einen eigentümlichen Abstand. Verstecken sich vor den Spotlights eines anklägerischen Realismus, verbleiben in diesem eigentümlichen Kentridge-Dunkel, das die großformatigen Einzelblätter geradeso wie die zu Filmen animierten Zeichnungen bestimmt. Das ganze Werk folgt von den frühen Achtzigerjahren an einer unübersehbar theatralischen Intention. Es braucht die Empfindungs- und Erkenntnisdistanz zwischen Bühne und Publikum. Und wer das große postkoloniale Tribunal erwartet, Bilder, mit denen sich ein Globaler Süden für die Arroganz des imperialistischen Westens rächt, der wird tunlichst enttäuscht. Für Zulieferungen zur zeitgenössischen Wokeness-Bevorratung ist das Kentridge-Studio im südafrikanischen Johannesburg jedenfalls nicht zuständig.
Dabei scheut das Werk keinesfalls das Leidenspathos. Es gibt die ratlose Umschau auf Gräberfeldern, und es gibt Szenen der stillen Duldung. Aber viel häufiger geht der Schrecken mit der Groteske einher. Nicht umsonst gehört eine aberwitzige Figur wie der König Ubu, den der Dadaist Alfred Jarry erfunden hat, zu den fruchtbaren Anregern des Kentridge-Theaters. Und wenn die Arbeiter auf den öden Minenfeldern den unmenschlichen Bedingungen erliegen, dann verwandeln sie sich in Felsbrocken oder zerplatzen wie ein Luftballon. Die Erzähltechnik, die die fatalen Geschichten in Sequenzen zerhackt oder aus der Montage einzelner Bewegungsphasen wie beim Daumenkino einen gemächlichen Bewegungsrhythmus schafft, trägt ganz erheblich zur Derealisierung der Ereignisse bei. Alles verbleibt in der Anspielung. Und über allem liegt so eine Art Kinodunkel, eine Düsternis, die die Figuren nie anders denn als Schatten auftreten lässt und vom Voran- und Weiterkommen nur als unendlicher, tanzender, tappender Prozession erzählen kann.
Mbembe hat für Kentridge keinen Blick
Was kann man dafür, dass einem gleich einmal Platons Höhlengleichnis einfällt. Die armen, vom erbarmungslosen Denker so sehr bemitleideten und verachteten Insassen, die sich im Dunkel mit den Schattenbildern der Dinge begnügen und sie vermeintlich für die Dinge selbst halten, während draußen die Ideenhelle der Dinge zu erkennen wäre. Womöglich freilich ist das Schattendunkel doch nicht so schlecht. Dass Kentridges Schattendunkel nicht wahrheitsfähig wäre, ließe sich jedenfalls nur mit philosophischer Ranküne behaupten.
Genau besehen kommt keine seiner Geschichte an ihr Ende. Und wenn man lang genug verweilt, dann entdeckt man bald einmal, wie man in diesen Schleifen gefangen ist und kaum sagen könnte, ob der Loop nicht schon längst wieder neu begonnen hat. Kentridges Poesie hat etwas Unabschließbares. Das ist von großer Faszination, wie die Geschichten, die da erzählt werden, sich selber immer wieder ins Wort fallen, und die offenkundige Kritik nicht ohne lächerliche Verkleidung auftritt. Anders als im Schwebeton des Anrührenden, Komischen, Versöhnlichen sind die brutalen Dinge, an die die Szenen erinnern, nicht zu vernehmen.
Es ist nicht falsch, wenn einen die Zeichnungsparaden und zu Filmen zusammengepuzzelten Scherenschnitte an Comics erinnern. Es ist die Erzählform des 20. Jahrhunderts, die längst nachgewiesen hat, dass sich mit ihr nicht nur vom Lebenskampf der Ente Donald berichten lässt, die vielmehr wunderbar eingängig vorführt, wie sich Bilder lesen lassen, wenn sie in Sehbausteine zerfallen. Aber südafrikanisches Geschichtselend als Comic? Wäre vom hochsensiblen, politisch überwachen Künstler nicht doch mehr Entschiedenheit, mehr Eindeutigkeit, mehr Kampfbereitschaft zu erwarten? Einem wortmächtigen Postkolonialisten wie Achille Mbembe, Historiker mit Lehrstuhl an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg und Hauptbelastungszeuge im Prozess gegen den internationalen Imperialismus, muss der Kentridge-Kosmos wie unstatthafte Spielerei vorkommen. Wobei Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“ keinen Blick dafür hat, zu welch eindringlichem Scharfsehen Kentridges Metaphorik ermutigt.
Womöglich bannt ja seine Art des Zusammensetzens und Zerschneidens, das Oszillieren zwischen Realie und Symbol, zwischen Bezeichnen und Verzeichnen, Benennen und Verschweigen, Andeuten und Überzeichnen die Blicke ungleich mehr als geflissentliche Stilsicherheit im postkolonialen Gossip. Apartheid, sagt Kentridge, sei grausam, aber zugleich völlig absurd, „stupid“. Das eine ließe sich nicht vom anderen trennen. Und einmal gefangen in den Dunkelkammern dieser Kunst entdeckt man mit unvergleichlichem Nachdruck, wie der absurde Verlauf die Dinge noch schrecklicher macht, als sie im Spiegelbild der Gewalt erscheinen.
Man kann nun für diese Erfahrung quer durch Deutschland reisen, vom Ruhrgebiet bis nach Sachsen. In Dresden stehen an verschiedenen Museumsorten (Albertinum, Kupferstich-Kabinett, Puppentheatersammlung) die mehr prozessorientierten Arbeiten im Mittelpunkt. So lässt Kentridge auf seinen riesenhaften Filmbühnen („More Sweetly Play the Dance“ oder „Oh To Believe in Another World“) ganze Figurenketten, Tanzende, Strauchelnde, Soldaten oder Gefangene am Herrscherthron der sächsischen Wettiner vorbei defilieren. Im Essener Folkwang Museum sind Arbeiten aus bald fünf Jahrzehnten zur Retrospektive vereint. Beide Ausstellungen geben aber auch je für sich zureichende Einblicke in das kolossale Werk.
Am längsten hat uns die jetzt zwanzig Jahre alte „Black Box / Chambre Noir“ festgehalten. Eine Art mechanisches Theater, auf der sich wie auf einer Jahrmarktbühne immer irgendetwas bewegt, irgendeine Gestängefigur oder ein Kulissenteil hereingeschoben und hinausbefördert wird und zur schmelzend gesungenen Arie des Sarastro aus Mozarts Zauberflöte - „In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht“ - mit Automatenverlässlichkeit kleinere oder größere Katastrophen passieren, die alle an das Massaker an den Hereros erinnern, das deutsche Truppen 1904, im Jahr gleichsam ausgewachsener kolonialistischer Hybris, verübten. Die „Zauberflöte“ war aller reinste Aufklärungsutopie, die mit Automatenverlässlichkeit im Geschützdonner und den Todesschreien der Weltläufe untergehen musste. Es ist finster, abgründig, was der freundliche, ältere Herr zu erzählen hat.
William Kentridge: Listen to the Echo, Museum Folkwang, Essen, bis zum 18. Januar, Kupferstich-Kabinett im Residenzschloss, Dresden, bis zum 15. Februar, Albertinum, Dresden, bis zum 4. Januar, Puppentheatersammlung im Kraftwerk Mitte, Dresden, bis 28. Juni 2026.
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