Es gibt Bilder, die immer funktionieren, die gewissermaßen universell einsetzbar sind zur Formulierung von Kritik, von Meinung, von Kennerschaft oder einfach auch als Ausdruck von schlechter Laune. In Leif Randts neuem Roman „Let’s talk about feelings“ ist es das Wort „Knast“, das Piet, der beste Freund der Hauptfigur Marian, bei jeder Gelegenheit im Munde führt, etwa beim Besuch einer Off-Bühne: „Es wird höchste Zeit, dass sich Berlins Expats aus dem Knast der Performance-Art befreien.“
Es ist nicht so, dass Marian diese Marotte an seinem Kumpel stören würde, er versteht sie als dessen besondere Art und Weise, sein Nichteinverstandensein mit der Welt kundzutun. „Menschen saßen im Knast ihrer Eitelkeit, im Knast der Eigentlichkeit, oder im Knast eines alten Mietvertrags. Jedes Milieu, jede Nation, jede Haltung, ja, sogar jedes längerfristig festgelegte Ziel konnte als Knast beschrieben werden.“
Marian Flanders steckt im Knast der Mode. Zu sagen, der Inhaber einer Berliner Szene-Boutique sei ein Fashion victim, würde zu kurz greifen, denn er ist mindestens so sehr Täter wie Opfer. Mit Anfang 40 ist sein ganzer Blick auf die Welt (und es ist die Perspektive des Romans) durch einen radikalen Ästhetizismus geprägt: Die Frage nach dem richtigen Frühstück („einer Schale voller Bio-Haferflocken, Aldi-Knusperone und Mandelmilch“) ist ebenso eine existenzielle Frage wie der passende Soundtrack zu Beerdigung seiner Mutter, deren Asche bei einer Dampferfahrt auf dem Wannsee verstreut werden soll (es wird das Schumann-Klavierkonzert).
Marians Mutter war ebenfalls keine Frau, die irgendetwas im Leben dem Zufall überlassen hätte. In den 70er und 80ern war sie ein berühmtes Fotomodell, was schwer zu Marians Gefangenschaft in Geschmacksfragen beigetragen hat. Auch der Vater war zu seiner großen Zeit vor allem ein jedem geläufiges Gesicht – als jahrelanger Sprecher der „Tagesthemen“. Marian trägt schwer unter dem Erbe dieser Prominenz, die sich für ihn in einer Hypersensibilität für Äußerlichkeiten jedweder Art niedergeschlagen.
Seine Boutique führt er dementsprechend mit einem höchst ausgefallenen Konzept, das Neuware von erlesenen Designer-Labels neben raren Secondhand-Stücken präsentiert. Manchen Mondpreis erklärt Marian seinen Kunden dann so: „Das ist europaweit die vorletzte Weste in Größe 48. Nur in Amsterdam gab es zumindest gestern noch eine zweite.“ Marian freilich gibt es nur einmal – er ist so etwas wie der unfehlbare Papst in der Kirche des Geschmacks. Seine Dogmatik dürfte mindestens so scharfsinnig und komplex sein wie die des Katholizismus.
Dieser Marian Flanders ist eine typische Leif-Randt-Figur, die die Tragik der unvermeidlichen Schablonenhaftigkeit aller Lebensformen mit einer Hyperdifferenzierung beantwortet, um eben doch als unverwechselbares Individuum zu gelten. Eine Paarbeziehung freilich lässt sich in diesem Modus nur schwer führen, wie schon Randts letzter Roman „Allegro Pastell“ durchdeklinierte.
Schon gar nicht mit Kindern, mit denen sofort der Umschlag ins Klischee erfolgt. Bei der Beerdigung ist Marian froh, dass sein Halbbruder und dessen Frau ihre fünfjährigen Zwillingstöchter zu Hause gelassen hatten, und so „als tatsächliche Bestattungsgäste anwesend waren, und mal nicht als diese raumgreifende Familienperformance, die ständig alles andere unter sich begrub“.
Der Tod der geliebten Mutter stürzt den ins Midlife-Alter wachsenden Hipster endgültig in eine Sinnkrise; seine Beziehung war bereits vorher – einvernehmlich und achtsam – beendet worden. Nun begleiten wir Marian bei seinen Dating-Versuchen (was sehr bitterkomisch im totalen Drogenfiasko endet), bei Annäherungen an seiner übrigen Familie (die Halbschwester ist eine international erfolgreiche DJane mit Tournee-Burnout; der Vater, Anchorman i.R., versucht eine zweite Karriere auf Social Media) und vor allem im Bund mit seinen Freunden, darunter der Kulturkritiker Piet, der mit einem Podcast durchstarten will, der dem Roman den Titel gibt.
„Let’s talk about feelings“: Randt führt vor, wie seine Figuren, obwohl sie ständig über ihre Gefühle zu und mit Matcha-Tee oder Ketamin reden, vergeblich nach einem Zugang zu ihrem eigenen Inneren suchen.
Die Krise ist da. In diesem in der exakten Gegenwart 2025, aber in einer verschobenen Parallelwelt mit einer Kanzlerin Brinkmann spielenden Roman, muss sich nicht nur Marian sich neu orientieren, weil seine Boutique vor dem Aus steht, die sich dem Onlineshopping aus Stilgründen konsequent verweigerte. Und siehe da: Plötzlich bricht das normale Leben mit Macht ein. Marians neue Liebe, eine Dokumentarfilmerin, steht auf Fußball und Dosenbier, will Sex im Park und hat vor allem noch nie was von Marians Eltern gehört. Etwas Besonderes ist sie trotzdem.
Dieser neue Randt ist ziemlich lustig, weil er die immer schon latente Selbstdistanzierung bis zur offenen Satire weitertreibt. Marians Erweckungserlebnis auf dem Stadion-Klo unter gröhlenden Fans – „es war ein unglaubliches Fest“ – ist selbst schon wieder die ironisch-übertriebene Ankunft eines vollkommenem verstrahlen Hipster in der echten Welt. Ein Neuanfang. Leif Randt gelingt der Ausbruch aus dem Pop-Knast.
Leif Randt: „Let’s talk about feelings“. Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 24 Euro.
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