Das Schicksal erscheint in Form von drei Schwestern. Das gilt nicht nur für Moiren in der griechischen Mythologie; das gilt auch für Christian Barons jüngsten Roman, den dritten nach „Ein Mann seiner Klasse“ (2020), der im letzten Jahr verfilmt wurde, und „Schön ist die Nacht“ (2022): In „Drei Schwestern“ spielt Baron Sehnsüchte und Realitäten des Klassenaufstiegs dreier Frauen durch. Die Schwestern Mira, Ella und Juli wachsen in ärmlichen Verhältnissen in einer Arbeiterfamilie in Kaiserslautern auf. Mira, die Mittlere, will Dichterin werden. Ella, die älteste, hat gut geheiratet. Juli, die Jüngste, begreift sich als Beschützerin Miras. Schutz hat diese bitter nötig: Gerade sechzehnjährig erleidet Mira eine Totgeburt. Und dann ist da noch ihr Freund Ottes, ein echter Hallodri, ein Mann seiner Klasse, der zu gerne trinkt und einfach nicht weiß, wann man den vorwitzigen Mund halten muss.

Wer, wie Mira, bereits in jungen Jahren die schlimmste aller Katastrophen durchleben muss, dem können Schule und geregelte Ausbildung kein anderes Leben versprechen. Mira weiß, dass sie ihrer Herkunft entkommen muss. Aber wie sie das anstellen könnte, das weiß sie nicht. Bis sie auf eine Gruppe linker Studierender trifft, mit denen sie kurzerhand nach Berlin flüchtet.

Barons Roman arbeitet hier mit einem klassischen Fish-out-the-of-water-Prinzip: Mira ist die Fremde, durch deren Augen das seltsame Gebaren der Marx zitierenden Ärztekinder für den Leser betrachtet wird. Während die Studierenden noch darüber streiten, ob Putzen oder verschließbare Türen bourgeois seien, schrubbt Mira Böden, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Während es sich die anderen leisten können, gegen Ordnungsvorstellungen der Eltern zu rebellieren, muss sich Mira den Herausforderungen der Freiheit allein stellen – und wünscht sich, vor allem, Sicherheit.

Es ist klar, worum es Baron inhaltlich geht: Es sind die Kinder der Bourgeoisie, die den Proletarierkindern von der kapitalistischen Wirklichkeit erzählen wollen. Sie verwechseln ihren kindlich anmutenden Protest mit Systemkritik. Bereits in seinem Sachbuch „Proleten. Pöbel. Parasiten“ von 2016 erzählte Baron davon, wie es ist, wenn man als Arbeiterkind Soziologie studiert und plötzlich mit theoretischen Konzepten konfrontiert ist, die ihm die eigene Wirklichkeit erklären wollen. Eingefleischte Baron-Leser werden in Mira zudem eine Wiedergängerin der Mutter Barons erkennen. Allerdings mit einem kontrafaktischen Clou versehen: Im Gegensatz zur realen Mutter versucht Mira energisch, sich aus den Verhältnissen zu befreien.

Keine Wunscherfüllung

Barons Roman schöpft nicht nur aus der persönlichen Familiengeschichte; auf der Suche nach poetischer Gerechtigkeit, die sich in der realen Biografie freilich nie einstellen will, ermöglicht er seinen Figuren, jedenfalls zeitweilig, den Ausbruch. Er schreibt seinen eigenen Familienroman um. Im Sinne der Psychoanalyse ist der Familienroman die Erzählung, die ein Subjekt von seiner Familie entwirft, wobei er sich selbst in einer bestimmten Rolle deutet: Etwa als stiefmütterlich behandeltes Kind, als entthronter Prinz, etc. Faktische Biografie in kontrafaktische Erzählung umzuwandeln, erlaubt es Baron, die ganz reale Mutter zu befreien. Vielleicht ist das der Grund, warum Mira im Roman mit größter Zärtlichkeit erzählt wird.

Das ist rührend, zum Glück aber nie kitschig. Überhaupt offenbart sich Baron in seinem Roman als ein leidenschaftlicher Erzähler. Der Roman ist nicht nur Werkzeug, eine bittere Erkenntnis über linke Eliten des Landes oder die tatsächlichen Klassenverhältnisse zu kolportieren. Er lebt von flotten Dialogen, Idiolekten und Figuren, die im erzählerischen Sinne mit reichlich Fleisch auf den Hüften ausgestattet sind.

Letztlich spielt der Roman drei Möglichkeiten des Klassenaufstiegs für Frauen in den 80ern (und in vielerlei Hinsicht bis heute) durch: Die schnellste Option ist die Heirat in eine andere Klasse. Sie ist zugleich die gefährlichste. Ganz richtig hält der Text fest, dass Ella nur eine Scheidung vom sozialen Absturz entfernt ist. Es gibt die Möglichkeit des Aufstiegs durch Bildung, doch die biestige Lehrerin in Barons Roman, welche die Arbeiterkinder in ihrer Klasse quält, deutet bereits an, dass das Schulsystem die Realität der Klassengesellschaft nicht nur abbildet, sondern reproduziert. Bleibt die Hoffnung, sich mit harter Arbeit hochzuarbeiten. Oder etwas ganz anderes tun zu können. Sich etwa in die Kunst zu flüchten.

Doch als Mira bei einem öffentlichen Vortrag ihrer Gedichte von snobistischen Zuhörern gedemütigt wird, schwindet auch beim Leser die Hoffnung auf poetische Gerechtigkeit. „Wir wissen, daß der Mensch seine Fantasietätigkeit zur Befriedigung seiner von der Realität unbefriedigten Wünsche verwendet“, heißt es bei Sigmund Freud über das Motiv der Kästchenwahl und die drei Schwestern, die Moiren, Horen oder Parzen. So sehr der Roman seinen Protagonistinnen wünscht, aus den Verhältnissen entkommen zu können - er stellt klar, dass das Unterfangen jederzeit vom Scheitern bedroht ist. Barons Roman ist keine Wunscherfüllung, sondern Konfrontation mit der harten Realität der Klassengesellschaft.

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