Wer zu langsam ist, stirbt. In "The Long Walk" erzählt Stephen King 1967 die Geschichte eines gnadenlosen Wettlaufs durch ein dystopisches Amerika. Die Verfilmung zeigt: Der Stoff ist heute aktueller denn je.
1979 veröffentlicht Stephen King unter dem Pseudonym Richard Bachmann seinen bereits 12 Jahre zuvor als Student geschriebenen Debüt-Roman "The Long Walk". Die Geschichte eines Gewaltmarsches, in dem junge Männer für Geld und die Erfüllung ihres größten Wunsches ihr Leben aufs Spiel setzen, war ursprünglich als Allegorie auf den Vietnamkrieg gedacht. Das Timing für die Verfilmung des Buches fast 50 Jahre später könnte aber - mit Donald Trump als Präsident der USA - kaum passender und aktueller sein. Für Regisseur Francis Lawrence ist "The Long Walk - Der Todesmarsch" eine "Metapher für den Zerfall des amerikanischen Traums".
"Stagnierende Löhne, Inflation, Lebenshaltungskosten und andere finanzielle Belastungen haben so vielen Menschen das Gefühl gegeben, dass ihre Ziele unerreichbar und ihre Anstrengungen sinnlos geworden sind", erklärt er. Den Nihilismus, den er in Amerika spürt, bebildert Lawrence in langen Kamerafahrten durch menschenleere Landschaften einer dystopischen Version der USA. Verfallene Fabriken, brach liegende Felder und brennende Autos am Wegesrand zeigen ein Land, das weit entfernt von "America the Beautiful" ist.
Im Film haben sich die USA nach einem Krieg in einen tyrannischen Polizeistaat verwandelt. Freies Denken und Aufbegehren gegen die Regeln werden mit dem Tode bestraft. Die Not ist so groß, dass sich alljährlich junge Männer, fast noch Kinder, freiwillig für den "Long Walk" melden. Das Spektakel wird live im Fernsehen übertragen. Das Durchhaltevermögen der Teilnehmer soll als Vorbild gelten und die Arbeitsmoral im krisengeschüttelten Amerika anheben. Wer siegt, dem winkt ein hohes Preisgeld und die Erfüllung eines persönlichen Wunsches. Alle anderen Teilnehmer bleiben - wortwörtlich - auf der Strecke. Sie überleben das Rennen, das erst endet, wenn nur noch einer läuft, nicht. Wer schwächelt und langsamer wird, wird zunächst verwarnt und dann von Soldaten noch auf der Strecke erschossen. Survival of the fittest - im wahrsten Sinne des Wortes.
Dass die angeblich freiwillige Teilnahme letztendlich nur eine Farce ist, hat Hauptfigur Raymond Garraty (gespielt von Cooper Hoffman, Sohn des 2014 verstorbenen Oscar-Preisträgers Philip Seymour Hoffman) bereits vor dem Start begriffen. Das gezeigte Amerika ist ein Land, in dem "den Menschen nichts anderes übrigbleibt, als ihr Leben zu riskieren, um sich eine bessere Zukunft zu sichern, ein Dach über dem Kopf zu bezahlen oder Essen auf den Tisch zu bringen", bestätigt der Regisseur. Darin heißt es zwangsläufig für alle: Lauf oder stirb.
Mittelfinger der Menschlichkeit
Und so gilt es für die Teilnehmer, nicht nur die eigene körperliche Belastbarkeit bis weit über die Schmerzgrenze hinaus auszutesten, sondern auch dem psychischen Druck standzuhalten. Denn spätestens nach dem ersten Toten hat jeder der Jungs vor Augen, was ihm droht, wenn er das vorgegebene Tempo nicht hält. Obwohl sich in dieser Lage eigentlich jeder selbst der Nächste sein sollte, bildet sich eine Schicksalsgemeinschaft. An Garratys Seite laufen alsbald McFries (verkörpert von David Jonsson, "Alien: Romulus"), Baker (Tut Nyuot) und Olson (Ben Wang). Frei nach Alexandre Dumas' nennen sie sich "Die Musketiere" und übernehmen deren Leitgedanken: "Alle für einen." Sie stellen Konkurrenzgehabe hintan und motivieren sich gegenseitig, nicht aufzugeben. Ein Mittelfinger der Menschlichkeit, der sich in Richtung der totalitären Regierung streckt, die die jungen Männer aus Propagandagründen zu dieser Tour de Force zwingt.
Das Narrativ der zunächst unfreiwilligen, dann aber verschworenen, Gemeinschaft, kennen Fans von Stephen King aus "Es" oder "Stand by me". Während in diesen Klassikern des Autors aber der zwischenmenschlichen Dynamik Raum gegeben wird, um die Charaktere kennenzulernen und mit ihnen zu fühlen und zu bangen, zeichnet sich in "The Long Walk" leider (zu) schnell ab, wer im Laufe der Handlung als Kanonenfutter am Straßenrand liegenbleibt. Der Film legt den Fokus ab der Mitte denn auch fast ausschließlich auf die Beziehung von Garraty und McVries und deren persönliche Motive, am "Long Walk" teilzunehmen. Ohne zu spoilern sei hier gesagt: Beiden geht es in erster Linie nicht um die Siegesprämie.
Diese Bromance, die von Hoffman (der bereits in "Licorice Pizza" glänzte) und Jonsson kongenial gespielt wird, trägt den Film bis zu seinem Ende, das sich übrigens von der Buchvorlage unterscheidet. Das Interesse an den Charakteren um sie herum schwindet jedoch mit jedem erschossenen Jungen mehr. Verstärkt durch das Wissen, dass am Ende gemäß der Regeln nur noch ein Teilnehmer übrig bleiben darf. Während der erste Tote noch ein Schock für Läufer und Zuschauer gleichermaßen ist, schleicht sich leider im weiteren Verlauf der Handlung durch das immer ähnlich verlaufende Töten ein gewisses Gefühl der Abstumpfung ein. Obwohl Lawrence, der bereits in den "Hunger Games"-Filmen keine Skrupel hatte, junge Menschen publikumswirksam sterben zu lassen, die Schockmomente bewusst setzt. Er hält mit der Kamera drauf, wenn Hirnmasse spritzt und Panzerketten Beine zerquetschen.
Besonders den Unsympathen im Film hätte man ein wenig mehr Backstory gewünscht, um ihre Motive nachvollziehen zu können. Allen voran der Major, der von "Star Wars"-Legende Mark Hamill (kaum zu erkennen hinter seiner Sonnenbrille) beinahe roboterhaft empathielos gespielt wird.
Wenn er vom Panzer aus Reden schwingt, meint man das eine oder andere Mal übrigens, dass hier Donald Trump höchstselbst zu den Läufern spricht. Nicht auszuschließen, dass sich Hamill in Vorbereitung auf seine Rolle von den MAGA-Auftritten des Präsidenten inspirieren ließ.
Wie weit würde ich gehen?
Wer bei "The Long Walk" eine typische Stephen-King-Verfilmung erwartet, der wird enttäuscht, auch wenn die Angst auf jeder Meile des Gewaltmarsches mitläuft. Kein vordergründiger Grusel, keine Monster, keine Killer-Clowns.
Dafür bietet der Film trotz einiger Längen eine exzellent gespielte und dramatische Story, die im Anschluss an den Kinobesuch noch lange nachhallt und Stoff für Gedankenspiele liefert: Wie weit würde ich für meine Liebsten gehen? Würde ich die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse über das Wohl aller stellen? Und liegt der größte Horror des Films möglicherweise darin, dass diese dystopische Welt, die Stephen King erschaffen hat, aktuell gar nicht so völlig unmöglich erscheint?
"The Long Walk - Der Todesmarsch" läuft ab dem 11. September in den deutschen Kinos.
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