Kriminalhauptkommissar möchte man, dazu muss die neue Saison des Sonntagabendkrimis gar nicht so ganz lang schon begonnen haben, auch nicht sein. Felix Voss ist Kriminalhauptkommissar. Und er tut Dienst im vielleicht einzigen „Tatort“-Kommissariat, in dem man bisher jedenfalls seinen Dienst tun mochte – dem fränkischen, in Nürnberg. Weil es da irgendwie anders zuging, menschlicher, weil sie da einander zugewandt waren. Die Kommissare untereinander, die Kommissare gegenüber den Opfern, manchmal gegenüber den Tätern.
Da sitzt dem Felix, der – weil er sich gleich zu Anfang die Schulter gebrochen hat – noch schräger und eigenartiger durch die Geschichte des deutschen Polizeifilms läuft, als es Fabian Hinrichs, der Felix Voss ist, bisher immer getan hat, da sitzt ihm also einer gegenüber, der ihm die Absurdität seines Berufs vor Augen führt, deren Entlarvung sich wie ein roter Faden durch Vossens elften Fall zieht, der „Ich sehe dich“ heißt.
Ein Mann sitzt da, sagt Felix, der lügt und lügt und lügt. Und „hat“, sagt der Felix, „keine Ahnung davon, wie das geht. Es gibt Millionen und Millionen von Menschen, die beherrschen das wie nichts. Aber er… Nicht die Bohne“. Und der Mann ist mal einer, der einen echten Grund hat. Und „ich“, sagt der Felix, „sitz vor ihm und muss ihm zeigen, wie vergeblich das ist. Das ist nun mal unser Beruf. Wir müssen ihn kriegen. Wir werden ihn kriegen. Das ist doch zum Kotzen.“
Ein Scheißberuf ist das. So richtig glücklich wird man damit nicht. Das hat schon Mutter Schönfeld vermutet, um deren Sohn sich alles dreht in „Ich sehe dich“, obwohl er längst tot ist. Der Andi, so hieß ihr Sohn, wurde nämlich gefunden. Erschlagen. In einem Wald bei Nürnberg. Zwei Meter tief verbuddelt. In einem Königsgrab, sagt die Pathologin, geschachtet eigentlich für die Ewigkeit.
Vor zwei Jahren muss das gewesen sein. Mehr als Knochen sind nicht mehr übrig. Der Wald ist dunkel. „Ich sehe dich“ ist dunkler als „Dark“. Eine Dunkelkammer der deutschen Seele ist das, in die Felix steigen muss. Und dann muss er noch das einzige Licht löschen, das es da gibt. Einen Scheißjob hat der Mann.
Der Andi war ein guter Mensch. Das sagen alle. Zugewandt den andern gegenüber. Einer, der geholfen hat. Dessen Lieblingswort, sagt seine Mutter, „Ja“ war. Zu gut für diese Welt, denkt Felix.
Nie wird es richtig licht
Eine Mauer des Guten hat Andi um sich herum errichtet, sagt Felix Voss. Fahrradhändler, Fotograf, Musiker. Der Grinsekatze gleich geistert er durch diesen Film, in dem es nie richtig licht wird. Der fränkischen Tourismusindustrie wird er nicht gefallen, das hat der fränkische „Tatort“ noch nie.
Es geht alles los mit Schumanns „Träumerei“. Gespielt auf einem Klavier, das seit Jahren hätte gestimmt werden müssen. Einen Hammer sieht man auf einem Tisch liegen. Schumann scheppert herum. Dann ein Schlag. Ein Schnitt. Dann sieht man einen Plastiksack, und wie er durch den Frankenwald geschleppt wird.
So geht das häufig in „Ich sehe dich“. Alle Gewerke wirken mit an der Vergruselung des fränkischen Alltags. Die Musik, die das Schweigen hörbar macht, die immer genau in den Momenten die Klappe hält, in denen sonst versucht wird, Dramatik Klang werden zu lassen. Die einem durch Mark und Bein schneidet, wenn sie sich aus der Deckung bewegt.
Die Kamera, die wie eine eigene Wesenheit zu sein scheint, sich selbst auf den Weg macht, durch den Wald, durch das Haus der Schönfelds, wo es überall gleich finster ist. Ein Wald, der nicht romantisch ist, der fortführt, wo „Dark“ stehen blieb. Ein Haus, das ist wie ein Mausoleum der Siebziger, Eiche rustikal, ein Museum der späten Sechziger, wie es viele gibt im bundesrepublikanischen Speckgürtel der großen Städte, ein Haus, wie es tausendfach vererbt wird. Grabstelle für lebende Tote, deutsche Spielart von Bates' Motel. „Ich sehe dich“ führt die Dämonologie der bundesrepublikanischen Vorstadt auf ein neues Niveau.
Ein schräger Kommissar
Beklommen ist man schnell, gefangen auch. Von diesem Kommissar, der schräg geht, aus der Bahn geworfen, weil Paula Ringelhahn, die seine mütterliche Kollegin war, seine Stütze, sich verabschiedet hat in der vergangenen „Tatort“-Spielzeit. Der seltsam lacht, Umwege geht, allen verspricht, dass er immer für sie da ist. Von der Finsternis, in die man muss, hinter Andi her, der keinen Sex hatte, der Frauen verfolgte, der sich in ihr Inneres fräste, ihre Seele besetzte.
Gefangen auch von den seltsamen Wegen, auf die Max Färberböck, der Erfinder des fränkischen Sonntagabendkrimis, den Felix schickt und den Fred. Der ist neu im Franken-„Tatort“. Er steht ein paar Wochen vor seiner Pensionierung, und er fährt den Felix, der ja wegen seiner Schulter nicht kann, wohin auch immer er will. Ein ganz wunderbar grantiger Sidekick, ist dieser Fred. Und er ist deswegen so wunderbar und grantig, weil Sigi Zimmerschied, der große grantelnde Kabarettist, ihn spielt.
Es dauert eine gute halbe Stunde, dann sind wir bei Lisa. Die ist blind und ihr hat jemand Schlimmes angetan. Sie wurde stundenlang gefoltert. Vergewaltigt. Eine Perücke hatte er auf, der Mann, einen Ganzkörper-Overall. Er sah aus wie Norman Bates' Mutter. Oder die von Andi Schönfeld. Mavie Hörbiger ist Lisa. Alexander Simon ist Stephan Gellert, der Mann, der sie liebt, sie trägt.
Ein Mann von Kultur. Ein Mann, der lügt, weil er nicht anders kann. Eine große Liebe. Sie sind ganz wunderbar zueinander. Sie tanzen über dem Wahnsinn. Versuchen es wenigstens. Und was der Felix tun muss am Ende, weil er nicht anders kann, nicht anders darf, weil er ja diesen Scheißjob hat – es ist zum Kotzen. Zum Verzweifeln. So viel Schumann kann man gar nicht hören, dass einem leichter wird.
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