Robert Walser (1878-1956) wurde lange Zeit als ein besonders verkannter unter den Käuzen und Außenseitern der deutschsprachigen Literatur verhandelt. Sein unstetes Leben in ständiger Unruhe, in Orts- und Wohnungswechseln und mal großer, mal größter Armut. Dann sein vermeintliches Verstummen in der Psychiatrie, sein trotz Lobeshymnen von Franz Kafka bis Thomas Mann, Hermann Hesse bis Franz Hessel, Kurt Tucholsky bis Walter Benjamin geringer Anklang beim breiten Publikum – all das prädestinierte ihn zur Ikone erfolgloser Größe, zum andauernden Geheimtipp.
Doch längst ist er das nicht mehr: Er wird international wahrgenommen und ist ein Schweizer Nationalheiliger der Literatur. Welchem Autor waren schon zwei große Werkausgaben parallel vergönnt? Das ist gewiss nicht nur dem Faible von Autorenkollegen und Literaturwissenschaftlern zu danken, sondern auch einem erweiterten Interesse an Literatur, das über die Romane hinaus die Kunstfertigkeit der lange verkannten kleinen Zeitungsprosa, der Literatur fürs Feuilleton, zu schätzen weiß. Die amerikanische Übersetzerin und Professorin für Kreatives Schreiben Susan Bernofsky hat ihm nun eine Biografie gewidmet, nicht die erste, aber eine in jeder Hinsicht ganz besonders herausragende.
Sie sieht Walser als einen, der immer wieder in die selbst gestellte Falle des Sonderlings tappte. Die ihm von Hermann Hesse oder Thomas Mann generös zugedachte Rolle des kindlich-naiven Außenseiters hat er ebenso bedient, wie er mit ihr haderte oder sie ironisierte. Was aber wenig verschlug. Bernofsky stellt ihn zudem in den Kontext des damaligen Literatur- und vor allem Pressebetriebs, wo er bestens vernetzt war. Über dem essbegierigen und trunksüchtigen Café- und Gasthof-Gänger sollte man nämlich den dortigen obsessiven Zeitungs- und Zeitschriften-Leser nicht vergessen. Noch für die letzten Jahre in der Anstalt Herisau ist seine intensive Aufmerksamkeit aufs Weltgeschehen bezeugt. Und seine legendären Mikrogramme, in millimeterkleiner Bleistiftschrift, legte er zeitungsförmig an, in durchmischten Kolumnen.
Vor allem aber verfolgte er zeit seines Schriftstellerlebens, was andere Autoren in den Zeitungen schrieben und über sie geschrieben wurde. Besonders deutlich wird das in den Gedichten und der Kurzprosa, die er an die Prager Presse schickte – Porträts und Nachrufe in großer Zahl, freilich nicht nur auf Dichter, sondern auch zeitgenössische Heldenfiguren wie Charles Lindbergh (mehr dazu bei Sabine Eickenrodt: Kleine Ruhmesblätter, de Gruyter 2025). Hymnisch, nicht selten auch boshaft – zumal, wenn es um Prominenz ging. Dann kam sein grundsätzliches Ressentiment zum Zug gegen alles als berühmt, bedeutend und heldisch Gepriesene. Alle die von den Medien gerühmten Rennfahrer und Flieger, aber auch eine „Weltberühmtheit“ wie Paul Valéry stimulierten ihn zu Aversionen.
„Krokodilödeli“
Überhaupt verfiel er immer wieder jäh in eine Art literarisches Tourette-Syndrom, schimpfte und höhnte. Selbst geduldige Gönner blieben nicht unverschont. So verspottete er Eduard Korrodi, der ihn in der „NZZ“ stetig gefördert hatte, als „Krokodilödeli“. Der groß gewachsene Walser machte sich notorisch klein. Doch wehe, man nahm ihn so. Dann wurde er wütend. Dem entsprach sein Auftreten in Gesellschaft, wo er sich entweder beiseite hielt oder – nicht zuletzt vom Alkohol beflügelt – jäh rüpelte oder herumschimpfte. Mal sanft und zärtlich, mal despektierlich und dreist.
Unentschieden und unausgeglichen, das zeigt Bernofsky gebührend dezent, war auch sein Sexualleben: Gegen Frauen schwärmerische Zartheiten wie frivole Dreistigkeiten, am liebsten aus der schriftlichen Ferne, übergriffig bei der eigenen Schwester, mit homoerotischen Neigungen kokettierend, offenbar sie auch hervorrufend, wie bei Walther Rathenau, mal fetischistisch, durchweg um Unterwerfung kreisend. So sinnierte er, dass man „sogenannte Sadisten in ganz kurzer Zeit masochisieren und in Masochisten die erforderliche Summe Sadismus wecken kann“.
Einer wie Hölderlin, Kleist und Büchner
Kleine Größenphantasien und große Dienstwilligkeit wechseln einander ab – und durchziehen sein Werk. Die schmalen Romane sind zusammengesetzt aus zahllosen Episoden und Abschweifungen, die genialen Kurztexte bestimmt von großen Gedanken in der Andacht des Kleinen. Er selbst sah sich in der Linie von Hölderlin, Kleist und Büchner, attestierte seinen Feuilletons gar die Größe von Shakespeare und Dickens. Sein jüngerer Bewunderer Ernst Schibli hat die Diskrepanz von Werk und Figur seinerzeit prägnant gefasst: Walser selbst sei „schwerfällig, schweigsam, von derber Gestalt“, sein Werk aber habe „etwas Leichtes, Zierliches, Säuselndes und zumeist Frohbewegtes“. Und zu eben dem, was die Zeitgenossen gern als romantische Naivität goutierten, als schwärmende Wanderlust, hat Max Brod den Schlüssel geliefert: Unter der scheinbaren Naivität des Werks liege eine zweite Schicht aus Ironie, Raffinement und Feinfühligkeit und unter der eine dritte, „wirklich naiv, kräftig und schweizerisch-deutsch“.
Diese Vertracktheit seiner „Leisekunst“ (Joseph Victor Widmann) – also Zartheit und Geschwätzigkeit, Begeisterung und Katzenjammer, kühne Behauptungen und ihre umgehende Rücknahme, das Direkte und Ausweichende, die zunehmende Bevorzugung des Klanglichen und Assoziativen gegenüber Bedeutung und Stringenz – arbeitet Bernofsky immer wieder ebenso subtil wie pointiert heraus.
Darin gelingt dieser höchst informierten und zugleich in freundlicher Klarheit geschriebenen Biografie, was vielen anderen Büchern nicht gelingt: Sie hat Leben und Werk gleichermaßen im Blick, um Verständnis für das Leben und um tieferes Verstehen für das Werk einzuwerben. Natürlich nimmt dabei die Zeit Walsers in den psychiatrischen Anstalten Waldau und Herisau, die immerhin ein Drittel seines Lebens umfasst, gebührenden Raum ein. Bernofsky weiß dem vermeintlich eher monoton und ereignisarmen Lebensabschnitt sensibel Kontur zu geben, die damaligen Diagnosen der Schizophrenie ebenso zu korrigieren wie die Annahme, Walser sei dort isoliert gewesen und habe nichts mehr geschrieben. Aufgrund der Hartnäckigkeit der Trägergemeinde wie seines Gönners, Wanderpartners und späteren Vormunds Carl Seelig, verfügte Walser dort über auskömmliche finanzielle Mittel – entschieden mehr als in all den vielen Jahren, in denen er sein buchstäblich armes Poetenleben führen musste. Eine bitter ironische Pointe.
Susan Bernofsky: Hellseher im Kleinen. Das Leben Robert Walsers. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp, 536 Seiten, 38 Euro
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.