Es wird einem an diesem Sonntagabend auf den ersten Blick nicht ganz klar, wo man sich eigentlich befindet, wenn man sich hier, in Ost-Berlin, bloß das Publikum, das einen umgibt, einmal genauer anschaut. Das ist jung, im Durchschnitt Anfang bis Mitte 20, männlicher als gedacht und hat sich zurechtgemacht, als stünde man hier nicht in einer großen Mehrzweckhalle, sondern in einem der eher angesagteren Clubs der Stadt.
Doch dann kurze Verwirrung. Zwei DJs stehen auf der Bühne, inszenieren ein musikalisches Battle um die Publikumsgunst, zunächst noch sehr rapaffin, dann immer radikaler in die Untiefen der Millennial-Popgeschichte hinabsteigend: Natasha Bedingfield, Gwen Stefani und am Ende, ja wirklich, sogar Whitney Houston, I Will Always Love You, und alle singen sie mit. Pop funktioniert hier besser als Rap, aber nein, wir sind weder in einem Hotspot der Clubkultur, noch auf dem nächstbesten Black Music-Floor einer vorstädtischen Großraumdisco, das hier ist ein Drake-Konzert. Das Dritte in Folge, in der Berliner Uber Arena, der größten Veranstaltungshalle der Stadt, Fassungsvermögen: 17.000 Menschen.
Drake erlebte die ultimative Demütigung auf der größten Bühne der Welt
Drake gehört zu den größten Superstars der Welt. Er ist der meistgestreamte Künstler der Geschichte, noch vor Taylor Swift. Sieben Jahre war er nicht mehr in Deutschland, jetzt kehrt er für eine Reihe von Shows zurück. Und verkauft alles aus, was sich ausverkaufen lässt. Bemerkenswert, denn die Vorzeichen sind schwierig.
In den vergangenen Jahren hat sich Drakes Nimbus als unangreifbarer Überstar zunehmend eingetrübt, ausgelöst durch eine regelrechte Kaskade von Disstracks, die das versammelte HipHop Who-Is-Who gegen ihn veröffentlichte: Losgetreten von Pusha T und Kendrick Lamar, der neben zahlreichen irrelevanten Songs auch einen echten Wirkungstreffer erzielte. „Not Like Us“ wurde zu einem äußert populären Tiefschlag, den er zudem auch noch auf dem größten Event der globalen Popkultur, der Superbowl-Halftime-Show performte. 186 Millionen Menschen bekamen live mit, wie das ausverkaufte Allegiant Stadium mitsang, dass Drake ein vermeintlicher Pädophiler wäre. Die ultimative Demütigung. Und jetzt?
Drake verkauft nicht bloß ohne größere Probleme gleich dreimal die Berliner Uber Arena aus, seine gesamte Europa-Tour ist nicht viel weniger als ein phänomenaler Siegeszug, auch seine Streamingzahlen haben sich nach einem kurzen Schock vergangenes Jahr wieder auf Superstar-Level erholt. Es scheint, als hätte ihm das vergangene Jahr einfach nichts ausgemacht. Wie kann das sein? Ein Besuch auf seinem Konzert verrät viel über das Phänomen Drake. Und über die moderne Popkultur allgemein. Sechs Faktoren bedingen seinen Erfolg:
1. Drake = Zeitgeist
Grund 1: Nach wie vor fängt niemand den Zeitgeist so gut ein wie Drake. Für seine Show hat er sich zwei gegenüberliegende Bühnen bauen lassen, die er über einen Rundumgang wechselhaft erreichen und bespielen kann. Während seiner knapp eineinhalbstündigen Show bleibt Drake eigentlich ständig in Bewegung und ist so seinem Publikum so nah wie nur irgendwie möglich. Dabei geht es nicht um vermeintliche Fannähe, wie einige Journalisten glauben, sondern um Selfie-Momente. Jeder hat die Chance, ein Selfie mit Drake zu machen und es hochzuladen.
Ja, seine gesamte Show ist auf die Aufmerksamkeitsspanne der Generation TikTok ausgelegt. Nicht ein einziger Song wird komplett ausgespielt, seine größten Hits bekommen zum Teil 20 Sekunden Spielzeit. Als würde Drake über seine For You-Page scrollen, spielt er seine größten Hit-Momente einmal durch, sein Konzert ist ein einziges großes TikTok-kompatibles Medley.
Musikalisch ist das eine Katastrophe. Gerade die ruhigen R’n’B-Songs haben überhaupt keine Möglichkeit ihre Tiefe zu entfalten. Aber darum geht es hier nicht. Drake hat längst begriffen, es geht dem Publikum um instagramable Content, nicht um die bestmögliche Show. Eine interessante Beobachtung am Rand: Die meisten von Frauen in die Luft gehaltenen Handys filmen nicht mehr die Show. Sondern die Frauen selbst, die während der Show mitsingen.
2. Disstracks haben an Wirkmacht verloren
Grund 2: Disstracks sind heutzutage nur noch Entertainment. Der einstmals so zentrale Begriff der Authentizität spielt schon lange keine (entscheidende) Rolle mehr in der globalen HipHop-Kultur. Zum ersten Mal sichtbar wurde das wahrscheinlich, als Rick Ross, einer der erfolgreichsten Gangsta-Rapper der Nullerjahre, entlarvt wurde, dass er gar nicht der große Drogenbaron war, als den er sich jahrelang in Songs, Videos und Interviews inszenierte. Sondern – im Gegenteil – Officer Ricky, der Gefängnisaufseher war. Statt des erwarteten Karriereknicks verkauften sich seine Platten weiterhin ganz hervorragend. Eine neue Zeitrechnung begann.
„Not Like Us“, der entscheidende Drake-Disstrack von Kendrick Lamar ist ein Hit, weil er ein Hit ist, nicht, weil man die darin erhobenen Vorwürfe ernst nimmt. Ein Anti-Drake-Song kann in der Playlist direkt vor einem Drake-Song gespielt werden, es spielt keine Rolle mehr, im Pop hat sich längst jede Form von distinktiver Abgrenzung aufgelöst. Das kommt einem Drake zugute, der auf diese Weise nicht mehr als Person beschädigt werden kann.
3. Seine Musik ist beliebt, Drake selbst ist egal
Grund 3: Menschen, die Drake hören, lieben Drake-Musik, aber nicht Drake. Fankult spielt im Drake-Universum tatsächlich eine untergeordnete Rolle. Schon beim Betreten der Uber-Arena fällt auf, wie leer die Merchandise-Stände sind, man sieht den ganzen Abend so gut wie niemanden mit Drake-Merchandise. Der Dresscode: ready for nightclubbing. Wenn man bedenkt, wie die Innenstädte im UK aussahen, als jüngst Oasis dort gespielt hat oder wie deutsche Städte zu Swiftkirchen wurden, als eine Armee von „Swifties“ einkehrte, ist das schon bemerkenswert.
Um Drake hat sich keine klassische Fankultur entwickelt. Millionen Menschen lieben Drake-Songs, doch der Künstler selbst schwebt seltsam transzendental über seinem eigenen Werk. Entsprechend kann es ihn auch nicht treffen, wenn er im Feuersturm der halben Rap-Welt steht. Nicht John Gotti oder Rick Ross, sondern Drake ist der wahre Teflon Don.
4. Die Vielfältigkeit der Genres
Grund 4: Selbst die größten Fans von Drake hassen Teile von dessen Diskographie. Musikstile wie schlecht sitzende Anzüge zu wechseln, kennt man zwar auch von Möchtegern-Rappern/Punkrockern/Danchehallern wie Jan Delay. Aber während die sich wie schlechte Imitate von Originalen anfühlen, hat Drake schon früh verstanden, verschiedene Musikgeschmäcker zu bedienen. Auf seinen ersten Mixtapes und Songs präsentierte er sich als halb rappender, halb singender Charmeur. Von Rap und R&B über Pop über Trap über Dance: es gibt kaum eine Musikrichtung, die er in den letzten Jahren nicht bedient hat.
Drake hat dabei das geschafft, was so vielen anderen Künstlern nicht gelungen ist: Er hat sich nicht nur am Zeitgeist orientiert, sondern ihn mitgeprägt. Fans der jeweiligen Genres haben Drakes Ausflüge immer verachtet, aber in einer Zeit, in der Genre-Grenzen verschwimmen und die Gatekeeper im HipHop wie Journalismus aussterben, kann ihm Nerd-Kritik sowas von egal sein.
5. Features, Features, Features
Grund 5: Drake hat schon früh den Gedanken des Netzwerkens verstanden. „I did it all without a Drake feature“ ist eine der bekanntesten Lines vom viel zu früh verstorbenen Rap-Genie Mac Miller. Und er macht damit einen absoluten Punkt: Die Zahl der Künstler, die dank Drake einer ihrer größten Hits oder den ersten Aufstieg in den Streaming-Olymp geschafft haben, ist unzählig. Travis Scott, Future, SZA, Rick Ross, The Weeknd, 21 Savage, Chris Brown, 2Chainz, DJ Khaled. Um nur wenige zu nennen. Was gerne unterschlagen wird: Nicht nur die Künstler profitieren von Drake, auch der profitiert von dem künstlerischen Input.
6. The American Dream made in Canada
Grund 6: Am Ende schreibt Drake eine klassische US-amerikanische Aufstiegsgeschichte. Und das als kanadischer Immigrant. Mit den denkbar ungünstigsten und uncoolsten Startmöglichkeiten. Von 2001 bis 2008 spielte er als maximal mittelmäßiger Schauspieler in einer kanadischen Soap einen Rollstuhlfahrer, was ihm den Spitznamen Wheelchair Jimmy einbrachte. In den späten 2000ern landete er den Coup dank im Internet veröffentlichter Songs und Mixtapes bei Lil Wayne, dem angesagten Künstler der Zeit, zu signen.
Wohl niemand hat die uramerikanische Idee: „Fake it til‘ you make it“ so perfektioniert, wie Drake. Oder um es mit Aubrey Graham, Drakes bürgerlicher Name, selbst zu sagen: „Last name Ever, first name Greatest“, wie er auf dem gemeinsamen Song „Forever“ mit Kanye West, Lil Wayne und Eminem bescheiden rappte. Einer von unzähligen Hits, die es nicht auf die Set-List geschafft hat – wenig überraschend, waren viele der Konzertbesucher noch Kinder oder gar nicht geboren als er 2009 erschien.
Als am Sonntagabend das Konzert endet, strömen knapp 17.000 Menschen in den warmen Berliner Sommerabend. Die meisten sind damit beschäftigt, ihre TikTok-Accounts zu befüllen. Der Algorithmus will gefüttert werden. Und Drake hat ihn an diesem Abend für sich gewonnen. Schon wieder.
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