Um Albert Speer ist es hierzulande stiller geworden. Kaum zu glauben, dass noch vor 20 Jahren Heinrich Breloers dreiteilige Dokumentarfiktion zum 100. Geburtstag des Stararchitekten des Dritten Reiches ein gewaltiges Fernsehereignis war. Es trug den schön gruseligen Titel „Speer und Er“. Breloer konnte noch Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest vor die Kamera holen. Beide hatten gewissermaßen die zweite Karriere jenes Mannes gemacht, der als Rüstungsminister in den letzten drei Jahren des Zweiten Weltkriegs nach Hitler die größte Machtfülle besaß.

Siedler war der Verleger von Speers „Erinnerungen“. Einem Buch, das sich seit seinem Erscheinen 1969 weltweit in schier unglaublichen drei Millionen Exemplaren verkauft hat – kein anderes Lebenszeugnis eines NS-Führers schaffte das. Beim Schreiben geholfen hatte der spätere Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Joachim Fest. In seiner eigenen Zeitung witzelte man, als er 1993 in den Ruhestand ging, man wolle ihm zum Abschied einen Korrespondentenposten auf dem Obersalzberg verschaffen.

Fest, der es in seiner wie immer elegant geschriebenen Speer-Biografie von 1999 noch fertiggebracht hatte, die Frage, ob Speer vom Holocaust gewusst habe, offenzulassen und seine eigene Beteiligung an Speers Erfolgsbuch in zwei Anmerkungen zu verstecken, Fest also gab bei Breloer nun immerhin zu, Speer habe „uns allen eine Nase gedreht“.

Dieses putzige Eingeständnis ist im Nachhinein auf ganzer Linie bestätigt worden. In seiner inzwischen maßgeblichen Biografie konnte 2017 Magnus Brechtken aufgrund vieler neuer Quellenfunde nachweisen, dass Albert Speer nicht nur bei Himmlers berüchtigter Rede in Posen 1943 anwesend war. Dort wurde vor führenden Nazis erstmals klipp und klar über die bereits im Gang befindliche Judenvernichtung gesprochen.

Speer hat auch 1944, als Joseph Goebbels nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli endlich mit seinem „totalen Krieg“ beginnen konnte, die nun einsetzenden Einschränkungen für die deutsche Zivilbevölkerung mitgetragen. Mehr noch. In einer seiner zahlreichen Denkschriften forderte er noch schärfere Einschnitte als Goebbels: Alle Gaststätten seien nun überflüssig, meinte Speer, und sollten geschlossen werden. Auch das „Studium von Geisteswissenschaften“ sei jetzt unnötig und könne getrost abgeschafft werden. So viel Zeit für deutschen Regulierungswahn musste schon sein!

Speer, so Brechtken, habe auch seine Hände bei der Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz im Spiel gehabt. Und Heinrich August Winkler hob hervor, Speer habe sich in den ihm unterstehenden Betrieben aus dem Heer der Fremdarbeiter, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und „Arbeitsjuden“ zum Hochpeitschen der Rüstungsproduktion 1943 und 1944 „rücksichtslos und bis zur physischen Vernichtung“ bedient. Aber Ende Januar 1945 legte Speer, der bereits 1931 der NSDAP beitrat, jedoch offenbar nicht ganz so verblendet war wie Goebbels, Göring und Co., den Hebel um.

Der „Gentleman-Nazi“

Nun begann die Zeit seiner „Persönlichkeitsspaltung“, wie das seine Biografin Gitta Sereny genannt hat. Vermehrt weigerte Speer sich nun, die Befehle des in seinem Berliner Bunker vor sich hin vegetierenden Troglodyten Hitler umzusetzen. Auf einmal sollten Landmaschinen und Lebensmittel wieder Vorrang vor der Rüstung haben. Im Gegensatz zu seinem „Führer“ war der Mann, den immer noch viele für seinen „Kronprinzen“ hielten, so großzügig, dem deutschen Volk eine Chance fürs Überleben einzuräumen. Kurzum, er bereitete sich vor auf ein Leben „danach“.

Das zahlte sich aus. Wieweit auch immer sein Läuterungsprozess wirklich gegangen sein mag, er stellte ihn zumindest überzeugend dar. Beim Nürnberger Prozess 1946 war er der Einzige unter den Nazibonzen, der sich als für deutsche Kriegsverbrechen „verantwortlich“, wenngleich nicht schuldig bekannte. Das rettete ihm das Leben. Er wurde lediglich zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt.

Auch sein nachdenkliches, kontrolliertes Auftreten, seine Umgangsformen, die Distanz zu seinen uneinsichtigen Spießgesellen verschafften ihm nun jenes Image des „Gentleman-Nazis“, von dem er bis zum Ende seines Lebens 1981 profitieren sollte. Sah er nicht sogar ein bisschen wie Gary Cooper aus? Seine amerikanischen Richter waren auf jeden Fall die ersten, die nicht umhinkamen, eine gewisse Sympathie für den Kriegsverbrecher zu empfinden.

Und diese Sympathie zeugte sich fort. Als 1969 Speers Erinnerungen ihren Siegeszug antraten, interessierte die tatsächliche Verstrickung des liebenswürdigen, gepflegten alten Herrn, der von einer Talkshow in die andere wanderte, herzlich wenig. Vielmehr faszinierte Speer nun als Künstler. Hatte er nicht die weltweit bewunderten Nürnberger Reichsparteitage inszeniert? Die monumentale neue Reichskanzlei in der Wilhelmsstraße gebaut? Pläne für ein zur Welthauptstadt umgewandeltes Berlin gemacht, getreu dem Motto seines Auftraggebers „Wir müssen Paris und Wien übertrumpfen“?

Wie genau das alles beschaffen war oder hätte beschaffen sein sollen, wusste man nicht so recht. Die Reichsparteitage kannte man nur noch aus alten Wochenschauen und den Filmen von Leni Riefenstahl. Die Reichskanzlei war dem Erdboden gleichgemacht worden. „Germania“ blieb unrealisiert. Von Speers Arbeiten waren nur jede Menge Straßenlaternen in Berlin erhalten. Die hatten schließlich was, oder etwa nicht?

Hier setzt nun der Roman eines französischen Schriftstellers ein, der dieser Tage erscheint und entgegen aller Entzauberung Albert Speers durch deutsche Historiker noch einmal die ganze schillernde Ambivalenz eines Mannes aufbietet, den das Land, das ihn hervorbrachte, zu den Akten gelegt hat. Wenn wir die Franzosen nicht hätten! Was würde bloß aus unserer Erinnerungskultur? Kein Jahr vergeht, in dem nicht neue Studien, Lexika, Romane zu Nazis und der Geschichte des Dritten Reiches in Frankreich veröffentlicht würden.

Letztes Jahr war es ein Epochenbild über Paris unter deutscher Besatzung, das sich um den (jüdischen!) Barmann des Hotel Ritz gruppiert. Eric Vuillard erhielt für seinen Roman über den „Anschluss“ Österreichs 1938 vor einigen Jahren den Prix Goncourt, Olivier Guez für den seinen über das Nachkriegsleben des KZ-Arztes Joseph Mengele die zweitwichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs, den Prix Renaudot. Und hat nicht über Jahrzehnte hinweg Frankreichs vorletzter Nobelpreisträger Patrick Modiano, der sich selbst als „Kind der Okkupation“ bezeichnet, in den allermeisten seiner Erzählwerke Figuren auftreten lassen, die von ihrer Kollaborationsvergangenheit einen ganz spezifischen düsteren Reiz beziehen?

Nun ist es allerdings beileibe nicht so, dass Jean-Noel Orengo in „Der Architekt und sein Führer“ (Aus dem Französischen von Nicola Denis, Rowohlt, 271 Seiten, 24 Euro) die Verbrechen Speers beschönigt oder gar verschweigt. Er ist auch kein Adept des Modiano’schen Sfumato. Er redet Klartext. Er tut es überwiegend so, wie Eric Vuillard es vorgemacht hat. Er betont zunächst das Skurrile in der Lebensgeschichte des „Dekorateurs“. Er ridikülisiert Speer. Und vor allem: Er homosexualisiert ihn. Gleich das erste Kapitel heißt „Liebe auf den ersten Blick“. Es schildert, wie Hitler und Speer sich kennenlernen. Folgt „Honeymoon“ als Kapitel Nummer zwei. Da geht es um die Reisen Hitlers mit seiner neuen Flamme. Damit greift Orengo eine alte Geschichte auf, mit der schon Speer selbst in seinen Erinnerungen kokettiert.

Es handelt sich um eine Anekdote aus der Vorkriegszeit, als Hitler und Speer in gemeinsamen Stadterweiterungsplänen für Berlin schwelgten. Sie hatten es ja mit Kuppeln. Immer größer, runder, üppiger sollten die Kuppeln über den Gebäuden von Berlin werden. Kuppeln, wohin man sieht – eine nicht so furchtbar homosexuelle Fantasie, wie man zugeben muss. Wie auch immer. Eines Tages nimmt Speers Büroleiter Karl Maria Hettlage seinen Chef beiseite und fragt ihn beiläufig: „Wissen Sie, was Sie sind, Speer? Sie sind Hitlers unglückliche Liebe.“

In diese Anekdote ist viel hineingeheimnisst worden, und natürlich haben sich alle Biografen auf sie gestürzt. Auch Gitta Sereny. Doch Speer konnte sie beruhigen. Er raunte ihr zu, „etwas Sexuelles“ sei es mit dem Führer nicht gewesen, als ob ernsthaft irgendjemand desgleichen geglaubt hätte. Aber doch etwas „zutiefst Männliches“, wie man es mit Frauen nicht empfinden könne. Nun ja, über seine Briefmarkensammlung beugt man sich auch eher mit Jungs. Mädchen stehen nicht so sehr darauf. Dass die insinuierte Verliebtheit Hitlers in Speer und der von Letzterem immer wieder betonte Charme Hitlers eine bereits damals gut in die Zeit passende Entlastungsargumentation gewesen sein könnte, kam hingegen kaum einem Biografen in den Sinn.

„Um nicht vergessen zu werden“

Speers Hitler-Gefolgschaft also ein Verbrechen aus Leidenschaft? Eine strafmildernde Love Affaire das Ganze, was den Architekten und seinen Führer verband? So weit geht Orengo dann doch nicht, obwohl er behauptet, Speer habe in der prolligen Entourage Hitlers wie eine Frau gewirkt, weil er ein Schöngeist war, demgegenüber die wilden Kerle sich nicht ganz so wild gebärdeten wie sonst.

Aber war Speer tatsächlich ein Schöngeist? Zumindest während des Krieges wurde er vor allem Machtmensch. Er zeigte sich als knallharter Technokrat, als empathieloser Fachmann der Kriegsmaschinerie, die er so zu schmieren verstand, dass immer mehr und immer weiter gestorben und zerstört wurde – auf allen Seiten.

Insofern mag man seine Zweifel haben, wenn Orengo die Geschichte von Speer und Hitler präsentiert als die Geschichte von „zwei Künstlern an der Macht“. Hitler ein Künstler? Das ist denn doch ein bisschen viel der Ehre. Und was ist von Orengos Fazit zu halten? Es übersteigt noch Modianos Sfumato, es grenzt an magisches Denken, wenn er dekretiert: „Das Dritte Reich vergisst uns nicht. Solange es Menschen gibt, wird es uns nicht vergessen. Dafür ist es geschaffen. Um nicht vergessen zu werden.“ Nun ja. Jedenfalls hat Orengo Speer nicht vergessen und erinnert uns wortgewaltig an diese Figur, die eine nicht zu unterschätzende Facette des Dritten Reiches verkörpert: seine ästhetische Seite. Über die man seine verbrecherische Seite aber nicht vergessen sollte.

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