An alle Schüler, die noch überlegen, ob sie lieber Geschichte oder Jura studieren: Geht zum Deutschen Historikertag, falls der alle zwei Jahre stattfindende Kongress zufällig in Eurer Nähe gastiert. So hat es, anno 1956 in Ulm, schon Heinrich August Winkler getan. Zwar war ihm das Fach in die Wiege gelegt – schon die beiden Winkler-Elternteile waren in Geschichte promoviert, im mütterlichen Zweig der Familie sei er sogar „Historiker in der dritten Generation“. Doch erst der Besuch des Historikertags habe ihn final für Geschichte entflammt.
„Warum es so gekommen ist“ heißen die soeben erschienenen Memoiren des renommierten Geschichtsprofessors, der zuletzt an der Berliner Humboldt-Universität lehrte. Winkler, inzwischen 86-jährig, hat die öffentlichen Debatten und die Selbstwahrnehmung des wiedervereinigten Deutschlands in einer Weise geprägt wie kaum ein anderer Kollege seines Fachs. Gleich am Anfang stellt er klar, dass er „keine klassischen Memoiren“ geschrieben habe, sondern dreierlei Rückblicke.
Der erste Teil ist dem akademischen Werdegang gewidmet, im zweiten geht es um politische Interventionen und im dritten um persönliche Begegnungen und Erlebnisse. Dass eine akademische Lebensbilanz, die vieles nüchtern rekapituliert und protokolliert, keine Spannungslektüre ist, versteht sich von selbst.
Nichtsdestotrotz wird – allein an der „Who’s who“-Liste des Personenregisters deutlich, wie eng verzahnt mit dem intellektuellen und politischen Betrieb der Bundesrepublik Winkler gewirkt und dass er dabei auch so manches Schlagwort geprägt hat, etwa die Rede von der „privilegierten Partnerschaft“ in der Debatte um einen EU-Beitritt bzw. Nicht-Beitritt der Türkei.
Erinnerungen an ein Stück Deutschland
Kaum eine Person in Amt und Würden, die sich nicht mit Winkler-Lektüren beraten hätte. Zu Winklers Ruhm haben maßgeblich zwei mehrbändige Standardwerke beigetragen, die auch beim breiten Publikum Anklang fanden: „Der lange Weg nach Westen“ (2000) und die „Geschichte des Westens“ (2009–2015). Kenner schätzen auch seine Schrift „Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie“ – ein Buch, das Helmut Kohl seinen Kabinettsmitgliedern in den 1990er-Jahren zur Lektüre empfahl.
Die interessantesten Passagen von Winklers Memoiren behandeln seine alte Heimat, denn er wurde im Dezember 1938 in Königsberg in Ostpreußen geboren, einem Stück Deutschland, das heute nur noch in den Erinnerungen der Vertriebenen oder ihrer Nachfahren existiert. Man erfährt, dass Winkler ohne Vater aufwuchs (Theodor Winkler starb bereits 1939), aber behütet durch Mutter, Großmutter und Tante, die ihm eine sehr „altlutherische“ Erziehung angedeihen ließen. Eine Immunisierung gegen den Nationalsozialismus, die gar nicht früh genug beginnen konnte. Schließlich hing selbst im Königsberger Kindergarten kein Kant-, sondern ein Hitler-Porträt.
Winklers aktive Erinnerung setzt im August 1944 ein. Damals habe seine Mutter einen Brief erhalten, mit der Zusage für eine Stelle als Aushilfslehrerin in einem Internat bei Ulm. Zwei Tage später zog der fünfjährige Heinrich August mit Mutter und Großmutter in die Ulmer Gegend, wo die Familie Verwandtschaft hatte. „Dass es ein Abschied für immer war, werden die beiden Erwachsenen geahnt haben; mit mir darüber gesprochen haben sie nicht.“
Lakonisch ergänzt Winkler, wie rasch das Königsberg seiner Kindheit für immer verschwand: „Drei Wochen später, in der Nacht vom 26. zum 27. August, wurde die Königsberger Innenstadt durch einen britischen Fliegerangriff zum größten Teil zerstört.“ Immerhin, so Winkler, blieb seiner Familie die lebensgefährliche Flucht im letzten Kriegswinter 1945 erspart, die in vielen Filmen und Büchern Thema geworden ist.
Winkler über Kaliningrad: „Niederschmetternd.“
Der berühmteste aller Königsberger wird dem Schüler dann in Württemberg nahegebracht: „Eines der ersten Bücher, die mir von meiner Mutter geschenkt wurden, trug den Titel ‚Manuel‘. Es handelte von dem jungen Immanuel Kant.“ Dass es keine Rückkehr nach Königsberg und Ostpreußen geben würde, sei seiner Mutter schmerzlich bewusst gewesen, so Winkler: „Sie zitierte immer wieder ein Wort aus dem Hebräerbrief: ‚Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen wir.‘“
Berührend an dem insgesamt sehr protokollhaften Buch ist die Passage, in der Winkler, auf Basis von Tagebuchnotizen, von seinem Wiedersehen mit Königsberg – nunmehr Kaliningrad – im Sommer 1994 berichtet, im Rahmen einer Gruppenreise für „Heimwehtouristen“. „Niederschmetternd“. Da, wo Winklers zuletzt wohnten, standen unwirtliche Plattenbauten. Von der preußisch-deutschen Vergangenheit waren nur ein paar wenige Bauwerke, das wieder errichtete Kant-Denkmal sowie die gusseisernen Gullydeckel geblieben. Außerdem fiel die hohe Militärdichte auf.
Als die Reise mit dem „Königsberg-Express“ zurück nach Berlin geht, „hatte ich den Eindruck, die letzte sowjetische Militärkolonie zu verlassen. Eine Neigung, wieder dorthin zurückzukehren, verspürte ich nicht.“
Heinrich August Winkler: Warum es so gekommen ist. Erinnerungen eines Historikers. C.H. Beck, 288 Seiten, 30 Euro
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