Seit Wochen sieht man sie im Berliner Stadtbild: die Plakate, die im neuen Design für die große Eröffnungspremiere „Peer Gynt“ der Volksbühne werben. Nach vielen Jahren hat sich das Haus am Rose-Luxemburg-Platz von dem Design-Studio LSD getrennt, das der legendäre Bühnenbildner Bert Neumann mitgegründet hatte. Nun ist auch dieses Relikt aus der Castorf-Pollesch-Zeit verschwunden, der neue Auftritt in Gruseloptik erinnert eher an die Horrorfilmreihe eines Arthouse-Provinzkinos als an Avantgardetheater. Wichtiger ist jedoch, dass mit „Peer Gynt“ nun alte Bekannte an die Volksbühne kommen: Vegard Vinge und Ida Müller.

Vinge und Müller stehen für ein Totaltheater, wie es im heutigen Stadttheaterbetrieb eigentlich kaum möglich ist. Ein Kunstextremismus, wie man ihn vielleicht noch bei Jonathan Meese findet: überbordend, grenzenlos, anmaßend. Unter der Intendanz Castorf verschanzten sich der aus Norwegen zum Studieren nach Berlin gekommene Vinge mit seiner Bühnenbildnerin Müller und dem Musiker Trond Reinholdtsen für ihre Ibsen-Exerzitien über Wochen in der Prater-Nebenspielstätte. Die dort entstandenen Kunstwelten erinnerten an Albtraumpuppenstuben, in denen sich wahre Abgründe eröffneten.

Die Kunst über alles, heißt es bei Vinge & Co. Gespielt wird dabei auch mal zwei Wochen am Stück, 24 Stunden lang, ohne Anfangs- und Endzeiten („Die Wildente“). Ein anderes Mal wird das Publikum nach über drei Stunden Warten im Foyer wieder nach Hause geschickt, und das bei der Premiere („12-Sparten-Haus“ nach „Ein Volksfeind“). Und bei „John Gabriel Borkman“ gibt es ein ausuferndes „Blut-Sperma-Urin-Spektakel“ („Deutschlandfunk Kultur“) zu sehen, das in der Presse „das perverseste Theaterstück Berlins“ genannt wird. Was folgte, ist die erste Einladung zum Berliner Theatertreffen.

Bei Vinge und Müller konnte man nie wissen, was man zu sehen bekommt. Und was man sah, sprengte oft nicht nur Ekelgrenzen, sondern auch sonst vieles, was man sich vorzustellen wagte. Gerade deswegen gibt es unter den Zuschauern enthusiastische und treue Fans. Die rauschhaften Entbehrungen der stundenlangen Aufführungen werden zur Teilhabe an etwas Größerem. Hier kann man zu Recht einmal vom Kultstatus sprechen. Und trotz der wenigen Inszenierungen, nicht einmal zwei Handvoll in den vergangenen 20 Jahren, hat diese Ästhetik tiefe Spuren in der Theaterwelt hinterlassen.

Acht Jahre ist es her, dass Vinge, Müller und Reinholdtsen mit „Nationaltheater Reinickendorf“ zuletzt in Berlin aufgetreten sind. Nach dem überraschenden Tod von René Pollesch sollten Vinge und Müller die Volksbühne interimistisch leiten, die ersten Zeitungen meldeten bereits Vollzug, doch das Künstlerduo sagte letztlich ab – nicht zuletzt wegen der Kulturkürzungen in der Hauptstadt. Und nun kehren sie mit „Peer Gynt“ zurück, dem grellsten aller Ibsen-Stücke, wegen der Goethe-Referenzen oft der „nordische Faust“ genannt. Unter den Älteren mag man sich erinnern, dass es 1971 eine legendäre Inszenierung von Peter Stein an der damals noch jungen West-Berliner Schaubühne gab.

„Peer Gynt“ ist ein völlig fantastisches Stück, wie ein Kessel Buntes der bürgerlichen Fantasiewelten des 19. Jahrhunderts. Da gibt es Trollhochzeiten und Reisen durch den Orient, es geht um Sklavenhandel, Ich-Findung und das ewig Weibliche. Mittendrin der „Spukgeschichtenschmied“ Peer Gynt, der sich „tüchtig im Lügendichten“ nennt.

Das perfekte Stück für Vinge? Vor der Premiere am Mittwochabend wusste man kaum mehr als das, was auf dem Plakat steht. Kein Ankündigungstext, kein Besetzungszettel, kein Hinweis auf die Dauer. Auf der Internetseite des Theaters stand nur ein rätselhafter und kurzer Trailer: wie eine unheimliche Kinderzeichnung, unterlegt mit gruseligen Klängen.

Kaum eine Premiere dieser Spielzeit dürfte mit größerer Spannung erwartet worden sein. Wie es war? Wie eine irre Geisterbahnfahrt, eine exzessive Theaternacht, die sich in ihrer verschwenderischen Überfülle kaum fassen lässt. Das verspielte Pop-Art-Bühnenbild ist der gemalte Wahnsinn, mal Gotham City als Comic, mal eine psychedelische Berglandschaft.

Die Kunstwelt ist über die Bühne verlängert, die Seitenfoyers sind zu Galerien umgebaut, in denen Hunderte von detailverliebten Kritzelbildern zu bestaunen sind, die unter anderem dem kürzlich verstorbenen Volksbühnen-Dramaturgen Carl Hegemann oder Meese huldigen. Andere Zeichnungen mischen Splatter, Exploitation und Porno.

Der White-Trash-Boy ist lost

„Live and die in Gyntiania“ steht in großen Neonlettern über der Bühne – in Anlehnung an den berühmten Neo-Noir-Thriller über Los Angeles aus den 1980er-Jahren. Das Geniale ist, wie Vinge und Müller das Ibsen-Panorama an die Schwelle vom 20. ins 21. Jahrhundert übertragen und in die Mythen des Gegenwartsalltags hinabsteigen. Werbung, Popmusik, Hollywood, Fußball, Pornografie und Religion vermischen sich zu einer fantasmagorischen Bilderwelt, die die Fantasien des jungen Peer Gynt fesseln, aber auch entfesseln. Der White-Trash-Boy ist lost zwischen Wahrheit und Lüge, in den Simulakren des Spätkapitalismus, im Pandämonium der Lüste und Begehrensströme. Eine Irrfahrt beginnt.

Der Peer Gynt, den man in den folgenden acht Stunden ohne Pause kennenlernt, ist ein dauergeiler Teenager im Joy-Division-Shirt, der im Jugendzimmer mit Madonna-Platte von der monströsen Mutter mit Hyänenlachen verdroschen wird (es gibt auch zarte Seiten dieser Angehörigen des putzenden Prekariats), später auch von einem Polizisten. Peer ist ein Geschlagener, der zum Schlagenden wird – erst seiner selbst, dann auch von anderen. Damit einher geht auch ein Outfit-Wechsel, vom Emo-Look zu Lederhose und Deutschland-Trikot. Und es braucht nicht lange, bis das vor Blut und Schmutz trieft.

Was einem geboten wird, ist weit entfernt von einem harmonischen Coming-of-Age-Drama. Der Trollprinzessin – eine Pornofantasie aus der H&M-Werbung – ejakuliert Peer beim ersten Kennenlernen auf die Brüste, später vergewaltigt er über Minuten eine Schaufensterpuppe. Seine phallischen Omnipotenzfantasien kippen in Erniedrigungsgelüste, über Minuten malträtiert er mit Messer, Holzblock und anderen schweren Gerätschaften seine Genitalien (zum Glück ebenso aus Plastik wie der Säugling, den seine Mutter mit einem Fleischermesser zu blutigen Klumpen verarbeitet).

Als Lichtgestalt im Blümchenminikleid und mit Autotune-Effekt tritt die von Peer angehimmelte Solvejg auf, die sich am Ende des Stücks als Supersubjekt aus Geliebter und Mutter erweisen wird. Doch bis dahin kommt es an diesem Abend nicht. Nach sechseinhalb Stunden ist gerade einmal – mit viel wummernder Opernmusik und Zitaten von Fassbinder bis Lynch – der 1. Akt geschafft. Es folgen noch ein paar weitere Szenen, doch der Rest bis zum Finale im 5. Akt verteilt sich wohl auf die nächsten fünf Spieltermine. Die Gesamtspieldauer dürfte bei rekordverdächtigen 48 Stunden liegen.

Nach pünktlich acht Stunden – man kann zwischendrin jederzeit gehen und wiederkommen, wobei sich ab Mitternacht die Reihen deutlich lichten – ist Schluss, auch wegen des Arbeitsschutzes, wie man hört. Und sehr zum Missfallen von Vinge, wie man auch hört. „Acht Stunden sind kein Theater!“, schimpft der vorne auf der Bühne. Und als er sich nach knapp drei Stunden in fast schon ikonischer Pose in den Mund pisst, meckert er über die Vorschriften („Kein Tropfen in den Zuschauerraum!“). Was stattdessen im Saal landet, sind ein paar Kartoffeln, die Ase auf ihren Sohn abfeuert.

Schon jetzt einer der Höhepunkte der Theaterspielzeit

Ein paar hübsche Sauereien gibt es an diesem Abend schon, aber insgesamt bleibt es doch sehr gesittet. Was es auch gibt, sind ein paar gröbere Seitenhiebe aufs jüngere Zeitgeschehen. So wandert Geld von einem Sack mit der Aufschrift „Kultur“ zu „Pharma“ und bei den impfstoffbrauenden Trollen mit Frankenstein-Faible wird der ehemalige Gesundheitsminister (und bekannte Twittertroll) Karl Lauterbach persifliert. Und ja, gerade die letzte Stunde geht wirklich an die Substanz, die Erschöpfung macht sich bemerkbar. Und doch will man nichts lieber, als weiter in Gyntiania zu bleiben!

„Peer Gynt“ ist ein Gesamtkunstwerk mit Seltenheitswert, schon jetzt einer der Höhepunkte der Theaterspielzeit. Alles wird hier durch den Filter der Kunst, also intensiver, erlebt. Die Masken – die es unmöglich machen, einzelne Schauspieler zu identifizieren – und die vom Bewegungsgeschehen abgekoppelt eingespielte und eingesprochene Tonebene machen das Geschehen auf der Bühne surreal und unheimlich. Witzig ist es auch oft genug, manchmal auch nervig. Vor allem aber ästhetisch umwerfend, wie ein Rausch. Dieser alles bisher Dagewesene sprengende „Peer Gynt“ von Vegard Vinge, Ida Müller, Trond Reinholdtsen und dem vielköpfigen Ensemble ist schlicht grandios.

„Peer Gynt“ läuft an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die nächsten Vorstellungen sind am 27. (ausverkauft) und 29. September sowie am 1., 3. und 5. Oktober.

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