In einer der vielen einsamen Nächte sitzt Ed Gein verzweifelt vor dem Grab seiner Mutter, der einzigen, echten Bezugsperson, die er je hatte und führt ein Zwiegespräch mit der Stimme in seinem Kopf, die dem psychisch kranken Mann wie die Stimme seiner geliebten Mutter erscheint. Die Stimme sagt ihm, dass alles wieder werden könnte, wie es einmal war. Er müsste nur eine Schaufel nehmen und ihren Leichnam ausbuddeln.

Gein versucht es, doch er scheitert. Das Grab ist versiegelt, er stößt nicht durch, die Verzweiflung wächst an. Was er denn nur tun solle, fragt er seine Mutter und die Stimme in seinem Kopf antwortet wieder mal, das sei doch alles kein Problem. „Grab einfach die Schlampe neben mir aus.“ Also buddelt Gein im Grab der Frau nebenan, nimmt sie mit nach Hause, setzt ihr Hautmasken von anderen Leichen auf und nennt sie von diesem Moment an „Mutter“.

Es ist diese Mischung aus unfreiwilliger Komik, grotesker Überzeichnung und atmosphärischer Düsternis, die die neue Ed-Gein-Serie auf Netflix charakterisiert. „The Ed Gein Story“ wurde seit ihrer Ankündigung highly anticipated, wie es so schön heißt, also mit größtem Interesse von einem Millionenpublikum erwartet. Nicht ohne Grund, denn die Ed-Gein-Story ist die dritte Staffel der „Monster“-Reihe, die sich für Netflix nicht bloß als lukrativer Kassenschlager entpuppt, sondern auch einen enormen popkulturell Impact hat.

Das belegt besonders die erste Staffel, die das Leben des homosexuellen Serienkillers Jeffrey Dahmer nachzeichnete und Dahmer in den Olymp der ikonischen Massenmörder katapultierte. Gleich neben Charles Manson, Jason Vorhees und Freddy Krueger. Die zweite Staffel behandelte nicht ganz so erfolgreich, aber noch immer groß beachtet, die Geschichte der Gebrüder Menendez, die ihre Eltern ermordeten.

Ermittler fanden ein auf Schnur aufgefädeltes Lippenpaar

Bei Ed Gein waren die Voraussetzungen für eine Serienadaption andere. Gein war kein vergessener Serienmörder, er ist, wenn man so will, der Urvater aller popkulturell erschaffenen Real-Superschurken, er prägte Film und Literatur, wie niemand vor und niemand nach ihm. Gein war Vorlage für den Bufallo Bill-Mörder in „Das Schweigen der Lämmer“, er stand Modell für Norman Bates in „Psycho“ und Leatherface in „Texas Chainsaw Massacre“. Die Herausforderung bestand also nicht darin, Gein einem großen Publikum vorzustellen, sondern dem bereits kulturell verankerten Bild, das man von ihm hatte, neue Facetten hinzuzufügen.

Aber das ist natürlich nicht alles. Die Serienmacher standen vor der Hürde, das doch eigentlich recht belanglose Leben von Ed Gein über acht knapp einstündige Folgen zu strecken, was der autobiografische Stoff schlichtweg kaum hergibt. Geins Leben war recht belanglos, er wuchs mit seinem Bruder und seiner dominant-herrischen Mutter auf einer abgelegenen Farm in Wisconsin auf, entwickelte schon früh eine morbide Vorliebe, sammelte Zeitungsartikel, Comichefte und Fotos, die sich mit Verbrechen, Leichen oder indigenen Kannibalismus-Geschichten befassten. Als seine Mutter verstarb, begann er auf Friedhöfen Leichen auszubuddeln. Später beging er dann auch zwei Morde.

Als die Polizei schließlich sein Haus durchsuchte, fand sie neben den beiden Leichen auch Möbelstücke, die mit menschlicher Haut bezogen waren, ein Korsett, das aus einem weiblichen Torso gefertigt wurde, ein auf Schnur aufgefädeltes Lippenpaar und eine Sammlung von Nasen und weiblichen Geschlechtsteilen. Alles Beute von Geins nächtlichen Grabschändungen. Gein wurde in eine psychiatrische Einrichtung gebracht, wo er die nächsten dreißig Jahre verbrachte und schließlich als unscheinbarer und allseits beliebter Patient im Alter von 77 Jahren an Krebs verstarb.

Die „Dämonen“ sind hier nicht bloß die Massenmörder

Genug Material für einen Horrorfilm, nicht aber für eine ganze Serie. Deshalb musste Serienmacher Ryan Murphy mit ein paar absurden Nebencharakteren aufwarten, ebenso wie einer ebenso morbid-interessierten „Freundin“ und Mitwisserin von Gein, die es so nie gegeben hat – und weitere Handlungsstränge einfügen, die den kulturellen Einfluss von Geins reflektieren sollen. Wir sehen in der Serie also, wie Alfred Hitchcock von Gein erfuhr und sein Leben als Vorbild für „Psycho“ nahm, wie spätere Massenmörder sich auf Gein beriefen und wie Tobe Hopper von ihm inspiriert das „Texas Chainsaw Massacre“ drehte.

Dabei ist der Gedanke, den die Serienmacher verfolgt haben, gar nicht mal so abwegig, sie versuchen, in den acht Folgen nicht bloß den Einfluss von Gein nachzuzeichnen, sondern auch den Begriff des „Monsters“ einmal in all seinen Facetten durchzudeklinieren. Leider nicht subtil. Sondern mit dem Vorschlaghammer. Oder, um im Bild zu bleiben: mit der Kettensäge.

Wir sehen dann eben auch einen Alfred Hitchcock, der von den kulturellen Monstern gefressen wird, die er mit seinem revolutionären Kino selbst erschaffen hat, den homosexuellen Schauspieler Anthony Perkins, der in „Psycho“ die Hauptrolle spielte und sich aufgrund seiner gesellschaftlich noch geächteten Homosexualität selbst dämonisiert. Auch Tobe Hopper, der Regisseur von „Texas Chainsaw Massacre“ bekommt seinen Platz und darf zu Protokoll geben, dass die Leinwand-Monster, die er schafft, nur ein Spiegelbild der politischen Schrecken von Vietnam seien.

Und weil das nicht schon alles viel zu weit führt, gibt es Rückblenden in das Konzentrationslager Dachau, wo eine seelische Verbindung zu Ilse Koch, der Ehefrau des Lagerkommandanten, insinuiert wird, die auf einem Esel durch das KZ geritten sein soll, um dort die Insassen zu tyrannisieren. In einem seiner Träume wird Ed Gein dann sogar von einer Horde Lager-Insassen verfolgt und in den Wahnsinn getrieben. Das ist eine derart groteske Überzeichnung, die im Finale der Staffel dann noch einmal in den ultimativen Kitsch gesteigert wird, dass die guten Ansätze der Serie unter den Leichen Geins begraben liegen. Man wollte zu viel.

Ein weiterer Vorwurf, den sich die Serienmacher schon in den ersten beiden Staffeln gefallen lassen mussten, ist die fragwürdige Heroisierung des Serienmörders. Das ist im Rahmen einer künstlerischen Inszenierung natürlich ein platter Vorwurf, ein Film ist schließlich keine Dokumentation, auch wenn er auf wahren Begebenheiten beruht. Hier gelten andere Maßstäbe. Und dennoch: Es ist schon auffällig, wie in allen drei Staffeln aussätzige Psycho- und Soziopathen zu gut aussehenden, maskulin-aufreizenden Massenmördern stilisiert werden. Nie in der Geschichte des Horrorfilms war ein nekrophiler Grabschänder so sexy wie Ed Gein in der „Ed Gein Story“. Wahrscheinlich ist das ziemlich kalt kalkuliert, immerhin wird der True Crime-Markt hauptsächlich von Frauen bedient.

Wer sich dieser offensichtlichen Marktanbiederung verweigern will, der sollte sich lieber jeden einzelnen „Texas Chainsaw Massacre“-Teil noch einmal anschauen, selbst die trashigen, denn auch die sind im Kern gekonnter als die Ed-Gein-Serie, die es nur vorgibt, zu sein.

„Monster: Die Geschichte von Ed Gein“, zu streamen bei Netflix

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