Thomas Schmid und ich begannen vor drei Jahrzehnten ein merkwürdiges und wunderschönes symbiotisches Verhältnis. Obwohl wir auf vielen Gebieten grundverschieden sind, so schwingen wir auf einer freiheitlich-libertären Werte-Wellenlänge und im Menschenbild dermaßen gleich, dass wir uns 1994 in der Redaktion der „Wochenpost“ erkannten wie in Wagners „Walküre“ Siegmund und Sieglinde. „… so lass mich dich Bruder nennen“. Es begann stürmisch. Aber dann schien lange der Wonnemond.
Seitdem gingen wir unseren journalistischen Weg weitgehend zusammen. Thomas Schmid, erst Lektor im Verlag Klaus Wagenbach, dann Autor in Sponti-Publikationen wie „Pflasterstrand“ und „Freibeuter“, währenddessen Vordenker des öko-libertären Flügels der Grünen, wurde als Feuilletonchef der Ost-Berliner „Wochenpost“ schnell zu meinem wichtigsten Sparringspartner, bis wir zu der von uns beiden mit ebenso viel Leidenschaft wie Glücklosigkeit geleiteten Boulevardzeitung „Hamburger Morgenpost“ weiterzogen.
1998 gewann ich Thomas Schmid als ersten von mir eingestellten Mitarbeiter der WELT als Leiter des Meinungsressorts „Forum“, wo er einen echten Neuanfang, eine besonders disruptive Umkrempelung einer Redaktion maßgeblich mitgestaltete. Mit diesem Schritt hatte der engagierte und intellektuell prägende 68er die Redaktionsräume des ehemaligen Klassenfeindes Axel Springer betreten. Oder besetzt. Oder unterwandert.
Man könnte auch sagen: Er war endlich da angekommen, wo er schon immer gedanklich hindrängte, als liberaler, autoritätskritischer, marktwirtschaftlicher Nonkonformist, der die Wiedervereinigung ebenso begrüßt wie er Antiamerikanismus, Antikapitalismus und Antisemitismus sowie jedes selbstgerechte Ressentiment des juste milieus verachtet. Thomas Schmids Denken und Schreiben wurde zur Überraschung vieler zur funkelndsten Auslegung der fünf „Essentials“ dieses Verlags.
Bei der WELT leuchteten und leuchten seine Texte wie nirgendwo sonst. Weit mehr jedenfalls als während des fünfjährigen Ausflugs zur „FAZ“, wo Thomas Schmid sich zwar stets auf bewährter intellektueller Flughöhe bewegte, aber auf merkwürdige Weise weniger Wirkung entfaltete. 2006 kehrte er dann endlich zur WELT zurück, erst als Chefredakteur der Zeitung, dann der ganzen WELT-Gruppe, und schließlich als ihr Herausgeber.
In allen Funktionen liebte er den Streit um das bessere Argument, getragen stets von großem Respekt für die jeweils gegenteilige Meinung. Debatten mit ihm sind auch heute noch immer leidenschaftlich, aber am Ende lässt er sich entweder umstimmen (eher selten) oder es gilt der britische Versöhnungssatz: „We agree to disagree“ – oder wie Thomas Schmid es einmal gesagt hat: „Ein eloquenter Streit ist mir lieber als das Verhalten eines Wolfs gegenüber einem Wolf.“
Das diskursive Ringen um das bessere Argument ist sein Element. Das gilt nicht als Theoretiker im Elfenbeinturm, sondern als Praktiker in der Redaktion, der liebevoll an jedem Text und jeder Zeile feilt. Einmal sagte er: „Wenn ich nicht am Balken gewesen bin, ist es für mich kein befriedigender Tag.“ Dabei liebt Thomas Schmid die Zeitung als physisches Produkt, als täglich leidenschaftlich gestaltetes Kunstwerk auf Papier, aber er hat sich dem digitalen Fortschritt nie kulturpessimistisch in den Weg gestellt. Eher umgekehrt war er es, der sich über mich lustig machte, wenn ich in den technologischen Niederungen des Alltags versagte: „Der Digitalisierer kann mal wieder das Redaktionssystem nicht bedienen“, rief er dann laut in den Produktionsraum.
Thomas Schmids Kampf für die offene Gesellschaft begann vor 60 Jahren als Studentenjobber am Fließband bei Opel in Rüsselsheim, wo er die Arbeiterklasse politisch bewegen wollte, aber feststellen musste, dass der Bild-Zeitung das weit besser gelang. Aufgehört hat dieser Kampf noch lange nicht. Alle paar Tage liegt eine Mail von „Samtlaptop“ in meinem Postfach. So nennt sich die Adresse, von der Thomas Schmid seit einigen Jahren seine Blogartikel schickt, die dann meistens einige Tage später in der WELT erscheinen. Warum nur Samtlaptop? Samt ist daran wenig. Mit analytischer Schärfe und Störkraft schreibt er über Wirtschaftspolitik und das missglückte Rendezvous der Grünen mit der Wirklichkeit, über Kriege und die Zukunft der Ukraine. Und oft über vergessene oder unterschätzte Persönlichkeiten. Diese Geschichten über die beinahe Übersehenen berühren mich besonders. Sie stehen für den anderen, den unerwarteten Blick. Und damit für den journalistischen Wesenskern von Thomas Schmid. Die ewige Neugier auf das Nichtnaheliegende. Der feine Sinn für Zwischentöne und eine Sehnsucht nach Balance und Ausgleich. Oder wie Thomas Mann es ausgedrückt hat: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Wenn das Boot nach links zu kentern droht, lehne ich mich automatisch nach rechts. Und umgekehrt.“
Ich bin dankbar, dass wir uns begegnet sind und uns seit drei Jahrzehnten nicht aus den Augen verlieren. Herzlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag.
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