Europa sieht man an diesem Abend nur in Spiegelschrift, wie im Rückspiegel verschwindend. Kein Blick von außen, sondern die Innenansicht einer Kernschmelze. Am hinteren Bühnenrand blickt man zwar in die Wolken, doch leidet man hier – im Atombunker verschanzt – am Verlust von Gestaltungsspielraum und historischer Perspektive. Außer untergehen geht hier nichts mehr. Etwas ist faul im Staatengebilde Europa. Und am Horizont ziehen schon der Dritte Weltkrieg und ein neues Zeitalter auf. Abschied vom Abendland? Willkommen bei Frank Castorfs Endspielspektakel „Hamlet“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg! Eine Spielzeiteröffnung, die noch düsterer ist als der Herbstanfang.
Der Grundton des ausufernden Abends wird mit Heiner Müllers „Hamletmaschine“ gesetzt, auch die Übersetzung des Shakespeare-Dramas kommt vom 1995 verstorbenen DDR-Dichter. Jonathan Kempf stapft nach vorn, durch eine Hügellandschaft aus Styroporkohlestückchen, in denen später der Hofstaat von Helsingør wie der im Bällebad großer Einrichtungskaufhäuser abgestellte Nachwuchs tollt. „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und sprach mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein“, verkündet der einsame Rufer am Bühnenrand. Man ahnt, dass heute nicht nur Europa, sondern auch ein Drama über die Intellektuellen und die Macht begraben werden soll.
Bevor es mit Shakespeares berühmtem „Wer ist da?“ losgeht, wirft der 1951 in Ost-Berlin geborene Regisseur Castorf, langjähriger Intendant der Berliner Osttheatertrutzburg Volksbühne, noch einige Brocken mehr Müller auf die Bühne. Hamlet, dieser große Mythos der Neuzeit, geht verschütt unter Unmengen von Kommentar, wie das Grün unter den Überresten des fossilen Zeitalters, der Kohlenstoffbefreiungsfront.
Wer bei der Metatextschaufelei nicht hinterherkommt, kann immerhin in Auszügen im Programmheft mitlesen. Da kommen „Die Befreiung des Prometheus“ oder „Herakles 2 oder Die Hydra“, später noch „Shakespeare: Eine Differenz“: Texte, die eine erstarrte Welt ohne Hoffnung zeigen, wo Befreite auf ihre Befreier einhacken oder Helden im Kampf die Orientierung verlieren.
„Sein oder Nichtsein“ heißt es im Keller des Atombunkers, eine Menschheitsfrage in Zeiten von Aufrüstung, Krieg und nuklearer Drohungen. Paul Behren als Hamlet ist ein energischer junger Mann, ganz klar und kalt in seiner Wut, erfüllt vom moralischen Rigorismus der Jugend. Und auch ein durch den Riss der Reflexion verhinderter, „von des Gedankens Blässe angekränkelter“ Tatmensch. Ein Riss, durch den zugleich das Licht der Utopie und des zaudernden Zweifels fällt. Der Ekel treibt ihn an, vorm höfischen Getue und dem Zirkus der Macht. Er will es anders tun und kann es doch nicht.
Die Gegenwart bietet diesem Hamlet weder Halt noch Zukunft, weswegen er von Geistern heimgesucht wird, die am Ende die Porträts von Lenin und Stalin tragen. Hamlet als Urbild des Traums oder Albtraums der Intellektuellen, die sich mit der revolutionären Gewalt die Erlösung von ihrer seelischen Zerrissenheit erwarten?
Es gehört zur Tragödie dazu, dass gerade Claudius zu Hamlets Antagonisten wird – ein auf den Onkel verschobener Aufstand gegen den Vater, der einen immer wieder wundert. Denn dieser, von Josef Ostendorf so wundervoll gespielte Herrscher ist kein brutaler Blutsäufer, sondern ein sanfter Tyrann von fast gemütlicher Liberalität. Als Hamlet ihn mit einem Spottlied über Dicke zu provozieren versucht, lächelt er das milde weg. „Hast du das in Wittenberg gelernt?“, fragt Claudius amüsiert. Doch Hamlet traut dem Schein nicht, er ist überzeugt, dass auch dieser so freiheitlich wirkende Souverän Blut an seinen Händen hat und mit der Heirat seiner verwitweten Mutter dem Sittenverfall Tür und Tor öffnet. Er will ihn unbedingt entlarven.
Bis man beim Hauptmanöver zur Entlarvung der Herrschaft, dem „Mausefalle“ genannten Stück im Stück, angekommen ist, dauert es allerdings ein paar Stunden – die Gesamtdauer der Premiere liegt bei knapp über sechs Stunden, mit einer Pause. Die Spannung steigt: Welches Theater lässt die Masken fallen? Noch mal Heiner Müller („Mauser“-Falle)? Oder Bertolt Brecht? Weit gefehlt: Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“! Das hätte man allerdings seit Castorfs „Galileo Galilei“ am Berliner Ensemble ahnen können, wo er Brecht gegen Artaud in den Ring schickte, mit klarem Punktsieg für den nietzscheanischen Franzosen (wenn auch kein K.O.). Oder ist Artaud mit seinen Fantasien vom Theater als „Sprengstoff“, das den „Kriegszustand“ in einem wachhält, nur eine weitere Hamlet-Maske, der nächste unerbittliche Alleszerstörer und Rebell gegen den Schein?
Castorfs peinliches Selbstbegräbnis
Mit Artaud bringt Castorf auch eine ungewöhnliche These zum Faschismus auf die Bühne, die sich abgewandelt auch bei Georges Bataille in „Die psychologische Struktur des Faschismus“ findet: Im Theater der Grausamkeit müssen die Konflikte, die in einem schlummern, offen ausgetragen werden. Wo das ausbleibt, wird die Bühne den Schmierenschauspielern des Grausamen wie Hitler überlassen. Was Castorf bei seinem mit Geschichtsphilosophie, Gesellschafts- und Kunsttheorie überladenden Abend jedoch vernachlässigt, ist die Geschichte von Ophelia, obwohl mit Lilith Stangenberg eine großartige Schauspielerin auf der Bühne steht. Und dass statt der Totengräberszene nur müde Castorf-Witzeleien geboten werden, wirkt eher wie ein peinliches Selbstbegräbnis.
So wabert und mäandert die Düsternis Stunde um Stunde über die atmosphärische Bühne von Aleksandar Denić, unterlegt von William Minkes außergewöhnlicher Musikauswahl, bis hin zu Captain Beefhearts „Dachau-Blues“. Es wirkt insgesamt mal mehr, oft weniger inszeniert. Dass an diesem Abend alles nach und nach im Dunkel versinkt, muss man mit Blick auf die fantastischen Kostüme von Adriana Braga Peretzki jedoch mehr als nur einschränken. Peretzki steckt das Ensemble – neben Kempf, Behren, Ostendorf und Stangenberg noch Daniel Hoevels, Matti Krause, Alberta von Poelnitz, Linn Reusse und Angelika Richter – in alles, was glänzt, glitzert oder anderweitig die Bezeichnung extravagant verdient: ein hell leuchtender Kontrapunkt.
Was am Ende bleibt, ist noch die Fortinbras-Frage, die seit Julius Bab und spätestens Carl Schmitt als das eigentliche Geschehen im Hintergrund gilt, während Hamlet im Vordergrund Wahnsinn spielt und den Staat zerrüttet. Fortinbras, als junger Norwegerprinz die Spiegelgestalt zum Dänenprinzen, rückt pünktlich zu Hamlets Abtritt mit seiner Armee an, die er zuvor gegen Polen geführt hat – und unterwirft das nun wehrlose Königreich, es folgen Jahrzehnte der Fremdherrschaft.
Als Heiner Müller „Hamlet / Hamletmaschine“ in den letzten Tagen der DDR, während die Leute in Massen auf die Straße gingen, in Ost-Berlin auf die Bühne brachte, sah er zwei Möglichkeiten für Fortinbras: Stalin oder die Deutsche Bank. Und heute? Xi Jinping oder Google? In Castorfs Fassung der linken Intellektuellentragödie klingt das, was der Vorbote der neuen Zeit spricht, wie Chinesisch. Wird das die Zukunft Europas nach dem selbstverschuldeten Niedergang sein? Und plötzlich traut dieser „Hamlet“ doch noch den Blick über den Rückspiegel hinaus. Da ist der Theaterabend aber auch schon vorbei – oder endlich.
„Hamlet“ in der Regie von Frank Castorf läuft am Deutschen Schauspielhaus Hamburg
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