Bücher. Was sonst. Gleich ein ganzes Paket mit Neuerscheinungen aus seinem Verlag sandte der 36-jährige Axel Springer im Sommer 1948 an Willy Haas, den einstigen Herausgeber der legendären „Literarischen Welt“. Unter den Büchern war auch „Weltliteratur“ von Axel Eggebrecht, eines früheren Weggefährten von Haas und nun Herausgeber der Monatsschrift „Nordwestdeutsche Hefte“ aus dem Hause Axel Springer.

Ein kluger Schachzug des Jungverlegers, um sich bekannt zu machen, könnte man meinen. Denn sein 1946 gegründeter Verlag produzierte zu diesem Zeitpunkt vorrangig Bücher, weil die britische Besatzungsmacht mit Lizenzen für politische Tageszeitungen geizte. Aber da war noch mehr: die Sympathie Springers für Remigranten, die nach der NS-Diktatur bereit waren, am Wiederaufbau einer Demokratie in Deutschland mitzuwirken.

So wie Willy Haas. 1891 als Sohn einer jüdischen Familie in Prag geboren, hatte er 1933 Deutschland verlassen und war 1947 aus dem indischen Exil nach Europa zurückgekehrt. London schickte Haas wenig später als Presse-Controller nach Hamburg. Für die von den Briten gegründete Tageszeitung DIE WELT (1946) schrieb er bereits gelegentlich, nun sollte er 1948 für die geplante WELT AM SONNTAG das Feuilleton aufbauen, mit Literatur als Schwerpunkt.

Axel Springer beließ es nicht bei Buchsendungen, er wollte Haas, das „Urbild des Literaten“ (Hermann Kesten), persönlich kennenlernen. Julius Hollos, ein weiterer Controller, nahm Springer mit in die WELT-Redaktion. Ihre erste Begegnung war Haas schon wenig später wieder entfallen, Axel Springer musste ihn beim nächsten Brief daran erinnern. Er habe in den zurückliegenden Wochen einige Hundert Personen kennengelernt, entschuldigte sich der Umworbene am 5. Juni 1948. Was zeigt: Willy Haas galt noch immer als Institution.

So war es folgerichtig, dass die WELT ihn fest an die Zeitung band, nachdem Axel Springer das Blatt im September 1953 gekauft hatte. Als Redakteur im Feuilleton wurde Haas dem Chefredakteur direkt unterstellt – nur eine von vielen Privilegien und Annehmlichkeiten. Als er 1973 starb, hatte Willy Haas fast 26 Jahre bei der WELT verbracht – rund ein Drittel seines Lebens: als Controller, Redakteur und vor allem als geschätzter Autor.

Natürlich las Axel Springer die Texte seines Star-Feuilletonisten. Im Juni 1957 freute er sich über den Leitartikel „Grund zum Optimismus“ auf der Titelseite, in dem es um den unerwarteten Andrang bei der „Faust“-Aufführung von Gustaf Gründgens am Hamburger Schauspielhaus ging. Haas sah darin ein Wiedererwachen der Tradition des Geistes. Springer schrieb: „Ich finde sehr schön, dass ein solches Thema an dieser Stelle in der WELT stehen kann.“

„Ich bin dankbar dafür, dass Sie bei uns sind“

Mit den Jahren wuchs die gegenseitige Wertschätzung. Am 6. Juni 1969 schmeichelte der Verleger: Er wünsche sich und dem Haus „noch viele Jahre Ihrer begabten Feder. Immer wenn ich DIE WELT aufschlage und etwas von Ihnen darin finde, freue ich mich, dass es Sie gibt, und bin dankbar dafür, dass Sie bei uns sind“. Springer stellte Haas ab und an sogar seine Londoner Wohnung zur Verfügung. Dieser hatte bereits am 11. Juni 1956 in einem Brief an Springer formuliert: „Ich habe Ihren steilen Aufstieg neidlos und mit Staunen verfolgt.“ Und weiter: „Ich wusste, es ist gut, in Ihren Zelten zu wohnen.“ Was Haas besonders schätzte: Er arbeite in voller Freiheit, werde respektiert und geachtet – „über das Maß hinaus, das ich verdiene“. In einem Band über die Anfangsjahre der WELT, der 1962 erschien und den Haas abschloss, bilanziert er: Durch die WELT habe „ich mich noch einmal auf eine Art selbst finden“ können.

Bleibt die Frage: Warum gehörte zur Selbstfindung nicht die Wiederauflage der „Literarischen Welt“? Jener Zeitung, die Haas 1925 gründete, zu einem Forum für moderne Literatur machte, Autoren aller Couleur schreiben ließ und „alle Literatur in brennende Gegenwart“ verwandelte, wie es hieß. Willy Haas träumte selbstverständlich im Exil davon.

Doch zugleich beschlichen ihn dort Zweifel angesichts der schwierigen Lebensumstände. Ein Vorpreschen früherer Mitarbeiter unterband er unmittelbar nach dem Krieg – auch unter Androhung juristischer Mittel. 1952 feierte Feuilletonist Georg Ramseger in der WELT die neuen „Blätter für Literatur, Film, Funk und Bühne“ des Schriftstellers Hans Werner Richter mit einem offenen Brief an Haas. Sein „Vor- und Urbild der literarischen Zeitung für unsere Tage“ habe einst dafür gesorgt, dass „ein Leben ohne Literatur nicht denkbar war und Literatur nicht ohne Sie“. Doch Willy Haas ließ sich von dem euphorischen Dank nicht locken.

In seinen Erinnerungen „Die literarische Welt“ (1957) gab er eine Erklärung: „Wie sollte ich ein Niveau halten, das man überhaupt nicht mehr halten konnte?“ Es fehle die „ganze, ungemein breite Basis, das unermesslich reiche Material, das uns damals auf allen Seiten zur Verfügung stand“. Haas war an anderer Stelle der Meinung, dass es nach 1945 keine großen Dramen, keinen wirklich großen Roman, zu wenig bemerkenswerte Lyrik gebe. Darüber ließe sich trefflich streiten. Ein naheliegender Grund: Haas war clever genug vorauszusehen, dass eine Neuauflage nicht mehr als ein „Aufguss“ werden könnte, der als gescheiterter Versuch an ihm hängenblieb. „Sein Nachruhm war gesichert“, schrieb Kollege Jost Nolte. Also konzentrierte sich Haas auf die Rolle, die er in der WELT ausleben konnte: die des Autors.

Was nicht bedeutete, dass seine einstige Liebe für ihn keine Rolle mehr spielte. 1960 erschien „Fragmente eines Lebens“, eine Auswahl seiner Essays aus der „Literarischen Welt“ – auch eine Seite „unseres“ Berlins, „das wir so sehr lieben“, wie er an Axel Springer schrieb, der ein Exemplar erhielt. Drei Jahre später gab Haas den Band „Zeitgemäßes aus der ‚Literarischen Welt‘ von 1925–1932“ mit Originaltexten heraus.

Ob auch Axel Springer mit einer Wiederauflage liebäugelte, ist nicht überliefert. Die Bemühungen der WELT-Verlagsleitung und der Feuilleton-Redaktion Anfang der 60er-Jahre schon. Eine neue Literaturbeilage mit dem traditionellen Namen beschere „eine gewisse ,historische Vergangenheit‘“, sie wäre dann „kein eben erst aus der Taufe gehobenes Kind“, heißt es in einer Hausmitteilung am 15. Oktober 1963. Doch dieser Plan wurde wenig später beerdigt, weil Willy Haas nicht bereit war, der WELT die Titelrechte zu überlassen. Als letzten Versuch prüfte die Verlagsleitung die Frage, ob Rechte nach einer gewissen Zeit nicht von selbst erlöschen, da es doch seit Jahrzehnten keine Ausgabe mehr gab? Die Prüfung sollte „mit gebotenem Takt“ erfolgen, denn Haas lag gerade in einer Klinik.

Die „Welt der Literatur“

Ab 19. März 1964 erschien die „Welt der Literatur“, Axel Springer hatte diesem Titel der neuen Beilage zugestimmt. Ganz ohne Bezug zum großen Vorbild wollte man nicht auskommen. In der Erstausgabe, in der Haas vertreten ist, heißt es im redaktionellen Vorspann zu seinem Text: Der Band „Zeitgemäßes“ habe allen bewusst gemacht, „was wir an der 'Literarischen Welt‘ von Willy Haas gehabt haben“. Und: Die Gegenwart und Gegenwärtigkeit von Haas in der WELT hätten Verlag und Redaktion ermuntert, es mit einer neuen Literaturbeilage zu versuchen – „seines Rates und seiner Hilfe gewiss“. Auch die Vermarktung nutzte diese Tonalität: Es sei doch klar, dass man im Hause Springer der Literatur sehr zugeneigt ist, „wenn ein Mann wie Haas unter uns lebt“.

Willy Haas rezensierte in der „Welt der Literatur“ anfangs regelmäßig – Bände über Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal oder Franz Werfel. 1971 wurde die Beilage eingestellt.

Im Jahr 1973 verschlechterte sich der Gesundheitszustand von Willy Haas rapide. Schon länger quälten ihn Augenprobleme, was das Schreiben erschwerte, worauf Axel Springer ein Diktiergerät besorgen ließ. Ablenkung bot die Faksimile-Ausgabe der „Literarischen Welt“, ein spätes Geschenk für Haas, der die Probeblätter im Krankenhaus durchsah. Seine düstere Bemerkung gegenüber Springer: „So habe ich es wahrscheinlich doch noch erlebt.“ Der Verleger hatte bereits ein Exemplar für sich geordert und Haas mit der Geschichte überrascht, dass seine Mutter früher eine permanente Leserin der „Literarischen Welt“ gewesen sei. Springer: „Sie lag immer bei uns zuhause auf ihrem Schreibtisch.“

Am 4. September 1973 starb der deutsche „homme des lettres“ (Alexander Rost). Zwei Tage später kondolierte Axel Springer der Witwe Herta Haas. Er sprach vom Geist, „den wir auch an Willy Haas fast noch mehr geachtet, ja geliebt haben, als sein literarisches Wissen, sein journalistisches Können und seinen unbestechlichen, eigenwilligen kritischen Verstand“. Oft sei es nur ein kurzer Satz gewesen, „der mir aber wohler tat und meistens sicherer den Kern traf als viele, lange Briefe anderer“. Die WELT überschrieb ihre Traueranzeige: „Unser Senior ist tot“.

25 Jahre später meldete sich die Zeitung wieder bei Herta Haas. Am Telefon war Mathias Döpfner, der neue Chefredakteur der WELT. Er würde gern die „Literarische Welt“ und das geistige Erbe Ihres Mannes wiederbeleben. Herta Haas, energische Nachlassverwalterin, unterbrach und setzte mit einem regelrechten Stakkato fort: „Wiederbeleben? Die ‚Literarische Welt‘? Die können sie nicht wiederbeleben, die können Sie höchstens kopieren. Sie brauchen die Titelrechte. Wie viel wollen Sie bezahlen?“ Man einigte sich. Am 11. November 1998 erschien die erste Nummer der neuen „Literarischen Welt“. Keine Kopie des Originals und von Herta Haas bis zu ihrem Tod 2007 wohlwollend begleitet – weil es ein lebendiges Forum für Literatur war und ist: Eines, so Mathias Döpfner, das die Idee des einstigen Blattes von Willy Haas „in seinem Sinne auf die neue Zeit“ überträgt.

Lars-Broder Keil leitet das Unternehmensarchiv der Axel Springer SE.

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