Dass er mal zu einem Hoffnungsträger einer unter notorischer Überalterung ihres Kundenstamms leidenden Kulturindustrie werden würde, hätten wahrscheinlich selbst seine Eltern nicht geglaubt, als sie ihn (es gibt Videos auf YouTube) an einen Flügel setzten, dessen Pedale für den süßen Knirps – in Tokio 1995 geboren – mit den Füßen nicht erreichbar waren. Dass er mit seinem Klavierspiel mal sein Geld verdienen würde.

Hayato Sumino ist der erste Weltpianist der YouTube-Generation. Und er war Gamer, sein Kampfname Cateen, unter dem er später auf YouTube und Instagram mehr Abonnenten sammelte als all seine Großpianistenkollegen zusammen, verdankt sich seiner Liebe zu Katzen. Die ersten Videos lud er auf der Schule hoch. Mit Klassik hatten sie nichts zu tun. Er spielte Games, er spielte Klavier.

Hayato Sumino – mathematisch und musikalisch hochbegabt wie sein Pianistenkollege Kit Armstrong – stellte seinen Flügel erst mal hintan und studierte Ingenieurswesen an Tokios Graduate School of Information Science and Technology. Machte seinen Master mit 25. Und ging dann für sechs Monate ans Pariser IRCAM, das ist die Kaderschmiede für technologisch avancierte Komponisten, studierte Musikinformationsverarbeitungstechnologie und künstliche Intelligenz.

Das mit der verzögerten Entwicklung seiner klassischen Pianistenkarriere hat bei dem hochgewachsenen, freundlichen und überhaupt nicht exaltierten Mann etwas mit Skrupeln zu tun. So viele haben Bach gespielt und Chopin und Mozart und Beethoven. Was sein Beitrag sein könnte, ist ihm lange nicht eingefallen. Dann kam Corona. Und dann kam Chopin.

Während der Pandemie machte er sich einen Spaß daraus, kleine Videos hochzuladen. Er spielte, was ihm Spaß machte. Spielte sieben selbst komponierte Variationen auf das Kinderlied „Twinkle Twinkle little Star“, jagte Mozarts „Alla Turca“ durch sämtliche 24 Tonarten. Spielte Chopin und Bach und Ravels Bolero auf zwei Klavieren gleichzeitig. Gershwins „Rhapsody in Blue“ mit dem Tablet und mit Klavier und Melodica. Zwölf Veränderungen von „Happy Birthday“ – mal klingt's wie Mendelssohn, mal nach Ragtime, mal ist's ein Marsch. Die Klickzahlen gingen durch die Decke. Die Abo-Zahlen auch. 1,5 Millionen hat er jetzt. Cateen/Sumino-Videos erzielen 160 Millionen Aufrufe.

Er hatte seinen Ingenieursmaster noch gar nicht, da lag das erste Album vor und er gewann Japans bedeutendsten Klavierpreis. Beim wegen Corona auf 2021 verschobenen Chopin-Wettbewerb kam Hayato Sumino ins Halbfinale. Sein Zweitrundenauftritt wurde im Netz 45.000-mal gestreamt. Ein Rekord.

Zwischen den Kulturen fühlt er sich frei. Zwischen den Stilen auch. Er improvisiert. Manchmal geht, was er sich an klassischem Repertoire fürs Live-Konzert auf den Flügel legt, gleitend in das über, was er selbst komponiert. Musik, die man als komplexere Ausbaustufe des Klingelklangel der sogenannten Neoklassik bezeichnen kann. Eine Musik, in der sich Filmmusik und Jazz und Barock, Funk und Spätromantik in aller Freiheit entspannt die Hand reichen.

Hayato Sumino ist – wenn er Bach spielt und Rameau und auch Chopin – vielleicht nicht der aufregendste aller Virtuosen. Suminos Spiel hat eine Tendenz zur Glätte, er ist eher ein Lyriker als ein Löwe an den Tasten. Und er spielt vor allem, was seinem Naturell entspricht, dem, was er selbst komponiert hätte, wäre er Jahrhunderte früher geboren worden.

Improvisation ist für ihn – dessen Kompositionen wie „Human Universe“ auf einer barocken Basis in den sanften Funk explodieren – der Urgrund aller Musik. Und die Freiheit zu tun, was ihm und vielleicht seinen Millionen Followern Spaß macht, treib ihn an, eine Freiheit, die er als Musiker nirgends so ausleben kann (und auslebt) wie in den sozialen Medien.

Dass die Frage beantwortet ist, die er sich am Anfang stellte, was er denn wirklich an Neuem beitragen könnte zur Geschichte der klassischen Musikausübung, weiß jeder, der schon einmal in einem Sumino-Konzert war. Sumino sieht klassisch aus, schwarz und weiß und mit Fliege.

Am Ende dürfen alle tiktoken

Das Programm – die Verwendung einer Melodica ist eher die Ausnahme – ist verhältnismäßig klassisch. Das Publikum ist es nicht. Es ist sehr jung. Es trägt sehr andere Klamotten als das, was der gewöhnliche Abonnent ins Konzert trägt. Hayato Sumino bringt genau das Publikum in die Philharmonien und Konzertsäle, von dem das Existenzrecht der klassischen Musik abhängt.

Und wenn alles dann gespielt ist, wenn es dann an die Zugaben geht, dann darf die Menge, das sagt Sumino dann an, gern Videos drehen. Und bei TikTok hochladen. Das wiederum unterscheidet Suminos Konzerte vom Besuch im Bürgeramt. Die Beamten da würden sich das verbitten. Die Klickzahlen blieben überschaubar. Aber vielleicht ändert sich das ja auch noch.

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