Aus diesem Fall hätte man einen sensationsgierigen True-Crime-Thriller entwickeln können, einen dokumentarischen Erfahrungsbericht oder eine informative Enthüllungsreportage. Aber was macht Dorothee Elmiger stattdessen? Sie schreibt einen hochverschachtelten Roman, den sie mit allerlei akademischen Referenzen spickt: Lacan, Adorno, Herzog, Bernhard, Kracauer, Derrida, Benjamin, und wer noch alles tritt da auf, mitten im Dschungel?
Eigentlich, das macht die 1985 in der Schweiz geborene und jetzt mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Schriftstellerin deutlich, geht es ihr weniger um das, was passiert ist, sondern vielmehr um das Erzählen selbst, bzw. um die Nicht-Erzählbarkeit. Denn „der Horror, der Horror liege naturgemäß außerhalb der Sprache, ja, er sei, wenn man so wolle, ihr Gegenteil, ihr Ende, und sie müsse deshalb auch jetzt, in diesem Moment, noch einmal scheitern, wenn sie ihn zu formulieren, zu benennen versuche, könne ihn nur umkreisen wie ein schwarzes Loch, einen reißenden Strudel“.
Der auf diese Weise fast durchgehend im Konjunktiv verfasste Roman entwirft ein Geflecht aus Verweisen, das so undurchdringbar ist wie der Urwald, in dem sich einst zwei holländische Studentinnen verlaufen haben, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Nur eine Digitalkamera mit den geheimnisvollen Fotos, die die 2014 in Panama Verschollenen vor ihrem Verschwinden geschossen haben, blieb von ihnen übrig. 106 Fotos, 91 davon in kurzer Abfolge direkt hintereinander geknipst, ein paar Kleidungsstücke und Knochen. Was war passiert? Waren die 22-jährige Lisanne Froon und die 21-jährige Kris Kremer auf ihrer Wanderung gestürzt – oder wurden sie gar, wie einige Internet-Theorien mutmaßen, entführt und ermordet?
Elmigers Poetik der Dunkelheit will keine Erhellung, keine Aufklärung in diesen mysteriösen Fall bringen, sondern die „Nachtschwärze“, in der sich das Grauen am stärksten vollzieht, erfahrbar machen. Elmigers Sprache zielt ins „Herz der Finsternis“ (Joseph Conrad). Im „Terror der Nächte“ durchleben wir „höllische Spektakel“: massenhaft sterbende Tiere, ein abgestürzter Zahnarzt „mit aufgerissenem Kopf“, fieberhafte Bordell-Szenen zwischen Lust und Ekel. In all diesen Situationen, in denen sich die Erzählung für einzelne Momentaufnahmen von der Selbstreflexion entfernt und dem Geschehen zuwendet, benennt sie das Entsetzliche, Furchtbare und Monströse immer auch explizit und wenig subtil als ebensolches.
Durch die komplexe, oft auch anstrengende Anlage – eine Poetikdozentin berichtet von einer Tropen-Reise mit einem „Reenactment“-experimentierfreudigen Theaterregisseur, in deren Verlauf sie immer mehr mit den Holländerinnen zu verschmelzen droht – hält Elmiger sich und uns das Grauen vom Leib, nur um es daraufhin in umso grauenvolleren Zügen zu intensivieren. Die Abgründe lauern überall. „Die Holländerinnen“ ist eine Geisterbeschwörung, die um die vielen Unmöglichkeiten des Lebens und des Todes weiß – die der Rekonstruktion, die der Sprache sowie die des Trosts.
Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. Hanser, 160 Seiten, 23 Euro.
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