„Alles im Leben dreht sich um Sex, nur nicht der Sex. Der dreht sich um Macht.“ Diese Oscar Wilde zugeschriebene und von der MeToo-Bewegung mit neuer Bedeutung versehene Aussage treibt der italienische Regisseur Luca Guadagnino nun auf die Spitze. In seinem Film „After The Hunt“ sprühen die Funken überall, selbst dort, wo es eigentlich um andere Dinge gehen sollte. Bis schließlich das Unvermeidliche passiert: Jemand verbrennt sich. Und zieht alle anderen mit sich hinab in den Abgrund. Übrig bleibt nur noch Asche.

Bisher hat sich Guadagnino eher für die Unstillbarkeit des Begehrens interessiert (des queeren in „Call Me By Your Name“ und „Queer“, des kannibalistischen in „Bones and All“ und des polyamoren in „Challengers“). Jetzt lenkt der Regisseur den Blick auf die Schattenseiten der Leidenschaft: auf den Konsens und darauf, was es mit Menschen anrichten kann, wenn er fehlt.

Das seit einigen Jahren florierende und trotzdem noch kaum ausgeschöpfte MeToo-Genre stellt zentrale und genuin filmische Fragen: Was kann ich erkennen? Was kann ich wissen? Wem soll ich glauben? Wo „She Said“ die Recherchearbeit von Journalistinnen im Fall Weinstein ins Zentrum rückte, „Drømmer“ das unerlaubte Verhältnis zwischen Schülerin und Lehrerin, „Tár“ den Machtmissbrauch einer Dirigentin und „37 Sekunden“ sexuelle Transgressionen im Musikbetrieb, nimmt „After the Hunt“ jetzt ein Milieu ins Visier, das so anfällig für Grenzüberschreitungen ist wie vielleicht sonst nur die Filmbranche: die Universität. Genauer: das Philosophie-Institut. Wo sonst kann man so genau beobachten, wie die vor elitärer Yale-Kulisse (übergeschlagene Beine, Rotwein, Ledercouch, deckenhohe Bücherregale) diskutierten Themen wie Macht, Verlangen, Moral und Wahrheit dem täglichen Praxistest standhalten? Nämlich dann, wenn die Bürotür zufällt oder sich der Aufzug schließt.

Nora Garrett, die das Drehbuch schrieb, entwirft ein klassisches Er-sagt-sie-sagt-Szenario. Sie sagt Vergewaltigung – oder eigentlich beschweigt sie es eher, lässt die Tat in ihrer Erzählung aus, die dadurch umso größeres Grauen entfaltet –, er sagt Lüge. Das Besondere ist, dass wir hier nicht, wie so oft, beiden glauben wollen, sondern, im Gegenteil, beide Parteien gleichermaßen unglaubwürdig erscheinen. Denn sowohl mit Professor Hank (Andrew Garfield) als auch mit Studentin Maggie (Ayo Edebiri) konkurrieren zwei durchweg unsympathische Charaktere um die Deutungshoheit in einem Fall, der nicht nur Karrieren, sondern auch Beziehungen, Freundschaften und Lebensentwürfe in die Brüche gehen lässt. Hank wirkt cholerisch, aggressiv und manisch von sich selbst überzeugt. Maggie – überprivilegiert und untertalentiert – plagiiert ihre Doktorarbeit und flirtet mit ihrer Doktormutter.

Aber damit noch nicht genug: Die eigentliche Protagonistin Professorin Alma (Julia Roberts), die entscheiden muss, ob sie zu ihrem Kollegen oder zu ihrer Studentin hält, betrügt ihren Mann Frederik (Michael Stuhlbarg), der – selbst kein Philosoph, sondern Psychologe – der einzige vernünftige Lichtblick in jenem bizarren Zirkus der Eitelkeiten ist. Dankbar atmet man auf, wenn Frederik mehrfach die Musik laut aufdreht, damit er sich den Quatsch, den sein Umfeld fabriziert, nicht anhören muss.

Dabei bemüht sich Alma, die in privater wie auch in beruflicher Hinsicht zwischen den Stühlen sitzt, tatsächlich, nichts falsch zu machen. Sie hört geduldig beiden Seiten zu, stellt wichtige Fragen, nickt an der richtigen Stelle und hält sich mit vorschnellen Verurteilungen zurück. Trotzdem geht alles schief. Das ist die zynische Botschaft dieses Films, in dem bis zum Schluss vieles offenbleibt. An den Stellen, an denen hinter der Bildungsbürger-Pose so etwas wie ein emotionaler Kern aufblitzt, vermag der ansonsten überfrachtete Film sogar zu berühren, nämlich dann, wenn er fragt: Ist Menschlichkeit in so einer Situation noch möglich – und wie sähe sie aus?

Absage an den Elfenbeinturm

Der Thriller will weder unterhalten noch voyeuristisch fesseln, darf also keineswegs mit der Dark-Academia-Teenie-Serie „Maxton Hall“ oder dem MeToo-Porno „Miller’s Girl“ verwechselt werden. „After the Hunt“, der das akademische Milieu stark übertrieben und teilweise unplausibel zeichnet, strahlt jene kühle Distanz aus, die wir von „Tár“ und „Anatomie eines Falls“ kennen. Das dauerpräsente gegenseitige Misstrauen und die von den Figuren ausgestellte Bereitschaft zum Missverstehen machen fast jede Szene unerträglich. An dieser Uni will man nicht mal für Geld studieren. Zur Entlassung kann man da eigentlich nur gratulieren. Wenn Maggie sich selbst durch die harmlose Frage, wovon ihre Dissertation handelt, auf den Schlips getreten fühlt, mutet das fast noch unangenehmer an als der Versuch, Sätze von Agamben als ihre eigenen zu verkaufen.

Die ambitionierte Studie in intersektionalen Empfindlichkeiten, die Guadagnino in weiser Voraussicht außerhalb des Wettbewerbs in Venedig zeigen ließ, wirkt mit ihrer überdramatischen Musik von Trent Reznor und Atticus Ross, dem permanenten bedeutungsschwangeren Ticken einer Uhr oder Bombe, sowie der poetisch auf Details verweilenden Kamera von Malik Hassan Sayeed nicht weniger prätentiös als die Gesellschaft, die sie porträtiert oder zu porträtieren vorgibt. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt – selten hat man so eine radikale Absage an den Elfenbeinturm gesehen wie hier.

Der Film „After the Hunt“ läuft ab dem 16. Oktober im Kino.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.