Die „Autorin Susan Sontag mit ihrem Sohn David“ muss man suchen. So wie jedes andere Bild in dieser Ausstellung. Oder man stößt plötzlich darauf – unerwartet, zufällig. Die Fotografien hängen nicht brav an weißen Wänden, sondern sind auf filigrane, schwarze Sprossenwände montiert, die den Berliner Gropius Bau in ein Labyrinth verwandeln. 454 meist quadratische Aufnahmen bilden dieses Netz: ohne Reihenfolge, ohne erkennbare Ordnung, ohne Erklärung.
Jedes Bild scheint ein Teilchen in einer visuellen Matrix, ein jedes konkurriert mit dem anderen um Aufmerksamkeit. Und jedes Bild – vor allem die vielen Porträts – tritt in plötzliche Konkurrenz mit den Gesichtern der Betrachter, die man in diesem luftigen Ausstellungsdesign anschauen kann, als seien sie selbst Exponate.
„Ein Foto ist ein Geheimnis über ein Geheimnis“ – dieser berühmte Satz von Diane Arbus scheint wie ein unsichtbares Motto über der Schau zu schweben. Arbus hat die Fotos gemacht, entstanden sind sie zwischen den späten 1950er- und den frühen 1970er-Jahren. Nachdem sie lange unter schweren Depressionen gelitten hatte, nahm sie sich am 26. Juli 1971 im Alter von 48 Jahren das Leben.
Heute ist Diane Arbus eine der bekanntesten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Viele Ausstellungen, allen voran „Revelations“ (2003), begleitet von einem der meistverkauften Fotobücher überhaupt, haben versucht, den Schleier um ihr Werk zu lüften. Vor allem Susan Sontag hatte sich früh daran gemacht, das Geheimnis zu entzaubern – und Arbus’ Werk als kalkulierte Inszenierung zu deklassieren.
Im Essay „Freak Show“, der in ihrem äußerst einflussreichen Sammelband „Über Fotografie“ erschienen war, warf sie der Fotografin vor, die historischen Menschenschauen der Jahrmärkte von Coney Island wieder aufleben zu lassen: eine „Freakshow des Mitleids“. Arbus, so Sontag, ästhetisiere das Hässliche, stelle es dem Normalen gleich und raube so dem Leid seine moralische Dimension. Ihr Blick sei distanziert, ihr Interesse kühl, ihr Status privilegiert. Sie könne es sich leisten, auf „die Anderen“ herabzusehen. Arbus’ Werk, so Sontag, sei Symptom für den „Verlust moralischer Maßstäbe“.
Vielleicht war das mehr als bloß ein intellektueller Beef zwischen den beiden Frauen, die sich für die Porträtaufnahme im Jahr 1966 im Central Park trafen. Beide gehörten zur New Yorker Avantgarde – zwei starke Egos im Wettstreit um Wahrheit und Deutungshoheit. Die Schau im Gropius Bau, die statt „Revelations“ (Enthüllungen) nun betont neutral „Konstellationen“ heißt, gibt wohl eher den Kritikern der Sontag’schen Fundamentalabrechnung recht.
Arbus’ Interesse an den Rändern der Gesellschaft erscheint hier als humanistischer Impuls: keine zynische Gleichmacherei, sondern radikale Gleichbehandlung. Sie fotografierte nicht heimlich, sondern in Zusammenarbeit mit ihren Modellen. Sie wollte zeigen, was die plurale Gesellschaft beinhaltet – und hat damit die Akzeptanz des Andersseins vorweggenommen. Für Arbus war Fotografie nie Mittel der Idealisierung, sondern Medium der Wahrhaftigkeit – ein Gegenentwurf zu den Schönheitsnormen, die sie als Fotografin für Modemagazine einst bedient hatte.
Diane Arbus: neugierig statt mitleidig
1956 nahm sie Privatunterricht bei Lisette Model, der Grande Dame der Street Photography. Model lehrte: je spezifischer ein Bild, desto universeller seine Wirkung. Arbus nahm diesen Satz wörtlich – und porträtierte Schönheitsköniginnen, Pfadfinder, Nudisten, Kleinganoven, Wahrsager, aber auch „Zwerge“, „Transvestiten“, „siamesische Zwillinge“, „Muskelmänner“, „fette Mädchen“, „eselgesichtige Jungen“, wie sie es im damaligen Sprachgebrauch in den Bildtiteln notiert.
Im Begleitheft zur Ausstellung wurden die deutschen Übersetzungen dem Zeitgeist angepasst, mit teils spekulativen Ergebnissen: Wenn etwa ein Mann in Frauenkleidern kurzerhand zur „Trans*Frau“ erklärt wird, wirkt das eher nachträglich etikettiert als respektvoll.
Arbus’ Blick war nicht mitleidig im Sontag’schen Sinne, sondern neugierig. Sie porträtierte den jungen Mann nicht wegen seiner Lockenwickler, sondern wegen des Ausdrucks in seinem Gesicht. Sie fotografierte das tanzende Seniorenpaar ebenso wie den Schriftsteller Jorge Luis Borges mit seiner Frau – Bilder, die von Würde erzählen, nicht von Zurschaustellung.
Besonders bewegend sind ihre letzten Serien über Menschen mit Behinderungen: Fotografien von berührender, aber nicht anbiedernder Nähe, in denen sich Lebenslust abseits jeder Zuschreibung vermittelt. Von zeithistorischem Wert sind auch ihre Aufnahmen berühmter Persönlichkeiten – Mae West, Jayne Mansfield, Marcel Duchamp, Frank Stella – und das schlafende Baby, dessen Zukunft als CNN-Moderator Anderson Cooper niemand erahnen konnte.
Jenny Schlenzka, die relativ neue Direktorin des Gropius Baus, knüpft mit „Konstellationen“ an eine alte Stärke des Hauses an. Während der Ära ihres Vorvorgängers Gereon Sievernich war die Fotografie eine zentrale Säule der Programmatik – mit großen Ausstellungen zu Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, Barbara Klemm oder dem revolutionären Modefotografen Martin Munkácsi. Schon 2012 wurde Diane Arbus hier mit einer Retrospektive geehrt. Fotografie soll in dem riesigen Berliner Ausstellungshaus, das neuerdings auch Künstlerateliers beherbergt, nun wieder einen höheren Stellenwert bekommen.
Von Diane Arbus sind es diesmal doppelt so viele Werke – und sie alle stammen aus dem Fotolabor des „Master Printers“ Neil Selkirk, der noch bei Arbus studiert hatte und nach ihrem Tod als Einziger autorisiert war, neue Abzüge aus ihrem Nachlass herzustellen. Über drei Jahrzehnte bewahrte Selkirk je einen Abzug jeder Aufnahme auf. Diese 454 Bilder wurden 2011 von der Schweizer Sammlerin Maja Hoffmann erworben und 2023 erstmals in deren Privatmuseum Luma im südfranzösischen Arles gezeigt.
Im Berliner Gropius Bau, in dieser bewusst hierarchielosen Präsentation von Luma-Kurator Matthieu Humery, tritt eine Qualität besonders hervor: Diane Arbus beherrschte die Schwelle zwischen dokumentarischer und inszenierter Fotografie perfekt. Ihre Bilder müssen keine Geheimnisse preisgeben.
„Diane Arbus: Konstellationen“, bis 18. Januar 2026 (Eröffnung am Abend des 15. Oktober 2025), Gropius Bau, Berlin
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