Das Merkwürdigste gleich vorweg: Der Stuttgarter Platz in Berlin ist gar kein Platz. Sondern eine leicht gekrümmte Straße nördlich des S-Bahnhofs Charlottenburg, mit etwas Begrünung daneben. Wo die viel befahrene, sechsspurige Kaiser-Friedrich-Straße den „Stutti“ kreuzt, herrscht noch am ehesten so etwas wie „Platz“, aber der gehört, streng adressentechnisch genommen, schon nicht mehr dazu. Hier treffe ich Michael Angele, der ein ganzes Buch über diesen merkwürdigen Nicht-Ort geschrieben hat: „Ein deutscher Platz. Die Ballade vom Stutti“ heißt es (dtv, 22 Euro). Warum über einen Platz, den man kaum findet, selbst wenn man drüberläuft?
Als ich Angele frage, wo er denn hier genau wohne, bin ich gleich auf dem falschen Dampfer. Das tut er nämlich nicht, hat er auch nie, obwohl er in Berlin, seit er Ende der 1980er aus Bern hinzog, schon eine Reihe von Wohnsitzen hatte, in Ost wie West. Aktuell lebt er in Pankow, das ist weit entfernt vom Stutti, zum heutigen, erst recht zu dem von gestern. Auch habe er keineswegs wie ein Hobby-Ethnologe den eigenen Kiez erkunden wollen.
Wir laufen den Stutti ab, auf der Suche nach passenden Fotomotiven. Zuerst den „bösen Stutti“, wie Angele den Teil östlich der Windscheidstraße nennt, der früher ein berühmt-berüchtigtes Rotlichtviertel war, mit zahlreichen Nachtbars, die „Bon Bon Table Dance“, „Mon Cheri“ oder „Lolita Bar“ hießen. Heute reihen sich dort Handyshops an Kramläden, die sich „Germania Vertriebs GmbH“ nennen und gebrauchte Koffer verkaufen. Letztes trostloses Überbleibsel ist die „Sin City“-Bar, wo laut Karte ein Wasser sieben und ein Weizenbier zwölf Euro kosten und ein Shot namens „Ficken“ angeboten wird. Vor diesem Rest West-Berliner Verruchtheit halten wir für ein Fotoporträt.
Warum also dieser gesichtslose Stutti? Die Initialzündung war für Angele eine doppelte: Während der langen Stubenhockerzeiten der Pandemie stieß er bei YouTube auf einen Film, in dem der Barbesitzer und Zuhälter Bernd Termer, einst „König des Stuttgarter Platzes“ genannt, den Niedergang des Stutti beklagt. En passant habe er da erzählt, die beste Zeit sei gewesen, als die Juden noch am Platz waren. Das habe Angele total verblüfft: „Ich hatte da eine Spur: jüdisches Leben am Stutti.“
Dem sei er nachgegangen, trotz des nicht unheiklen Klischees vom jüdischen Barbetreiber mit Rotlicht-Connection. Er stellte fest, dass dieses Nachkriegsphänomen für Westdeutschland gründlicher erforscht war, in den Garnisonsstädten mit alliierten Truppen etwa war es nicht selten.
Über komplizierte Umwege habe er die Telefonnummer eines Zeitzeugen bekommen: dem inzwischen selbst hochbetagten Sohn von Nuchym Wajselfisz, der 1908 in der Nähe von Warschau geboren wurde und, von Polen versteckt, den Holocaust überlebte. Später floh der Vater vor dem aufwallenden polnischen Antisemitismus über Umwege nach Berlin, eröffnete mehrere Bars – ein Freund und Geschäftspartner war der Diskothekenkönig Rolf Shimon Eden –, schließlich die „Babalu Bar“, Stuttgarter Platz 10, wenige Häuser vom heutigen „Sin City“ entfernt. Das war der erste dünne rote Faden eines vergessenen Stücks Stadt- und Zeitgeschichte, an den sich andere ansponnen.
Wir gehen weiter, über die Kaiser-Friedrich-Straße und kommen am Hotel „Stuttgarter Eck“ vorbei und damit zum zweiten Anstoß. Neben dem Eingang hängt eine Gedenktafel „Hier hauste im Jahr 1968 die Kommune 1“, die Angele gleich korrigiert. Denn Teufel, Langhans, Kunzelmann und Co. zogen im späten Frühjahr 1967 hierhin und schon wenige Monate später weiter nach Moabit. Aber in dieser Altbauwohnung am Stutti entstand das ikonische „Spiegel“-Foto mit den nackt an der Wand stehenden Kommunarden. Auf einem anderen Bild sieht man aus dem Eckfenster im 3. Stock das Plakat „Jetzt ist der Teufel los“ hängen.
Angele sah dieses Foto in Ulrich Enzensbergers Buch über die Kommune 1: Schaut man genauer hin, sieht man im Erdgeschoss den „Western-Club“, links daneben die „Elefanten-Bar“. Der „böse Stutti“ mit seinen zwielichtigen Etablissements ragt hier mitten in die zum Mythos gewordene Zeitgeschichte hinein. Und der spätere Besitzer dieser „Elefanten-Bar“ war ebenjener Bernd Termer, der mit dem YouTube-Film, den Angele dann für sein Buch interviewte, eine Schlüsselfigur der Berliner Halbweltgeschichte seit den 1960er-Jahren.
Dann kam eines zum anderen. „Dass zwei Frauen, die in der Kommune 1 zugegen waren, davor im Animiergeschäft tätig waren, habe ich durch Zufall erfahren.“ Auch der „Elefant“ gehörte übrigens vorher einem Holocaust-Überlebenden, Lewi Fischmann, der dann zu Termers Mentor wurde – eine von vielen umwegigen Lebensgeschichten, die Angele rekonstruiert. Die von Juden mitgeprägte Zeit des Stutti blieb Episode, ein heute vergessener Aspekt jüdischen Lebens in Deutschland nach der Katastrophe.
Angele hat sich seinem Gegenstand nicht als urbaner Flaneur genähert, wie es von seiner geistigen Herkunft her vielleicht nahegelegen hätte – er ist Literaturwissenschaftler und Essayist (und Redakteur beim „Freitag“). Sein Buch ist eher ein historischer Essay, in dem neben klassisch journalistischer Recherche jede Menge Archivarbeit steckt, vor allem im Polizeiarchiv Tempelhof, dort unter dem einschlägigen Stichwort „Sitte“.
Als Sittengeschichte der frühen Bundesrepublik lässt sich „Ein deutscher Platz“ tatsächlich lesen. Der Stutti war ein sozialer Brennpunkt, an dem sich viele Strömungen bündelten und viele Wege kreuzten. Auch weil sich hier bis zur Einrichtung des ZOB am Funkturm der zentrale Berliner Busbahnhof für Westdeutschland befand, und viele Neu-Berliner konkret hier ankamen. Angeles Erzählung beginnt mit der berüchtigten Lietzensee-Bande der 1950er-Jahre um Gerhard Jendro, die die Lokale am Stutti kontrollierte – eine Welt, die mit „Die Halbstarken“ 1956 mit Horst Buchholz und Karin Baal in die deutsche Kinogeschichte eingegangen ist.
Überhaupt haben Filmregisseure und Drehbuchschreiber (Schriftsteller weniger) ihre Stoffe oft in den Bars um den Platz gefunden, bis hin zu Dominik Graf, der für „Hotte im Paradies“ (2002) sogar einer Berliner Boulevardgestalt wie dem Bordellbesitzer Steffen Jacob einen Gastauftritt gestattete. Die Drehbuchlegende Rolf Basedow (der mit Graf etwa „Im Angesicht des Verbrechens“ gemacht hat) hat die Expertise solcher Milieu-Veteranen immer wieder künstlerisch auszubeuten gewusst.
Für Angele war es ein Aha-Moment, die heutige Faszination für kriminelle arabische Clans in der Aufregerpresse der 1950er gespiegelt zu sehen. „Die Jendro-Bande war auch ein Clan, aber halt ein deutscher.“ Für einen Akteur aus den „großen Zeiten“ wie den verbitterten Termer, der mit politisch „rechter“ Brille auf die Veränderungen blicke, habe der Niedergang des Stutti nach der Wende mit den Osteuropäern begonnen, zuerst mit den albanischen „Hütchenspielern“, die nach und nach die Lokale übernommen hätten und wieder von anderen verdrängt wurden.
Wie weit man solche Narrative für bare Münze nehmen kann, lässt Angele klug offen. Das Balladenhafte seiner Stutti-Story ergibt sich aus den wechselnden Perspektiven: Das Kleinkriminelle und Rotbeleuchtete ist hier noch nicht das „ganz Andere“ der sogenannten bürgerlichen Existenz (oder auch der antibürgerlichen der 68er). Angele entdeckt Schnittmengen, die sich Intellektuelle sonst eher selten vorstellen können.
Zum Mittagessen beim Italiener – Angele wählt Fisch – sind wir nun klar auf der „guten“ Westseite des Stutti angekommen. Hier unterscheidet sich der Kiez kaum noch von den neubürgerlichen Familienvierteln in Schöneberg oder Prenzlauer Berg. Es erscheint seltsam unwirklich, sich hier die Schutzgelderpressungen oder gar Drogenbandenkriege vergangener Jahrzehnte vorzustellen. Als ich Angele frage, ob er sich als Berliner fühle, sagt er spontan nein und muss dann selbst stutzen. „Wenn ich in der Schweiz bin, heißt es ‚Ach, der Berliner‘. Aber hier bin ich der, der irgendwie aus dem Süden kommt.“ Mit seinem 15-jährigen Sohn, der hier geboren wurde, fühle er sich eher als Einheimischer: „Wir berlinern dann ironisch.“
Er habe ursprünglich auch Bedenken gehabt, als Schweizer den West-Berlinern ihre eigene Geschichte zu schreiben. „Was mich beruhigt hat, war, dass viele meiner Personen selbst Zugewanderte sind. Den Ur-Berliner gibt es nur ganz selten.“ Der Stutti, ein Ort des Transits, des Übergangs, des ständigen Wandels ist auch deswegen so ein typischer West-Berliner Ort. Er habe das Gefühl beschreiben wollen, wie es ist, in die große Stadt zu kommen. Er selbst kam einst aus dem „saturierten“ Bern. „Die Schweiz, wie ich sie damals wahrgenommen habe, war eine Welt im Zustand des Posthistoire, wo sich nie etwas verändert.“ Berlin war für ihn „Schweiz mit Geschichte“.
Das Berlin der Nachkriegszeit war aber zugleich, ganz anders als das pulsierende Babylon der Weimarer Zeit, ein Ort der Leere, an dem man sich verlieren konnte. Auch der Stutti war nicht voll, kein „wuseliger Platz“, so erinnert sich der Autor selbst. Früher als es hier noch diese ganzen Nachtbars gab, sei er gern auch deswegen gern hineingegangen, um dieses besondere Gefühl der Verlorenheit zu erleben. „Die Bars waren meist leer, kaum Kunden drin. Das war eine starke ‚Gestimmtheit‘, wie man mit Heidegger fast sagen könnte.“
Dann gehen wir zum Bahnhof, für beide geht es in den Osten, dorthin wo man heute so gutbürgerlich wohnt und arbeitet, und steigen in die volle S-Bahn.
Michael Angele: „Ein deutscher Platz. Die Ballade vom Stutti“. dtv, 256 Seiten, 22 Euro.
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