Es regnet in Rostock. Es ist Nacht. Frank Sinatra singt von einem „Wonderful Year“, aber er glaubt, so klingt es jedenfalls, selbst nicht daran – nicht ans Wundervolle, des Jahrs und des Lebens. Einsame Menschen sitzen in viel zu kleinen Räumen. Halten diese Gegenwart nicht mehr aus. Lieben sich mit einer gewissen Verzweiflung.
Eine junge Frau geht in den Wald, sagt dem Polizisten, den sie anschießt, er solle sagen, dass es ihr leidtut. Dann steckt sie sich Vaters Revolver in den Mund und drückt ab.
Noch dunkler kann ein Kriminalfilm eigentlich gar nicht anfangen. Wo die Geschichte und die Kamera hinspringen am Beginn, ist es finster. Und so bleibt „Tu es!“, der neue „Polizeiruf“-Fall für Böwe und König. So sprunghaft und so lichtlos für beinahe alle Beteiligten. Das spiegelt sich schon im Namen jenes offensichtlichen Finsterlings, der aus den Verliesen des Internets junge Menschen dazu treibt, Selbstmord zu begehen (was überraschenderweise immer noch kein Straftatbestand ist).
Oder ein Messer zu nehmen und sich metzelnd über den nächsten Menschen zu werfen, der ihnen begegnet, wie der 23-jährige Elektrotechniker Leon. Der sitzt in der Straßenbahn am frühen Morgen. Eine Frau sitzt auch da. Er bekommt eine SMS. „Tu es!“, steht da. Eine Haltestelle später sind die junge Mutter und ihr junger Mörder tot.
Ein Mann wie eine Ölpfütze
„Wintersonne“ heißt das Rostocker Chatgruppen-Pendant zum real existierenden „White Tiger“ – einem Deutsch-Iraner namens Shariar J., der einen 13-Jährigen aus dem US-Bundesstaat Washington in den Suizid getrieben haben soll. In Verdacht gerät ausgerechnet ein Lehrer. Lange heißt er. Und eigentlich ist er ein guter Mensch.
Er nimmt sich in einer Selbsthilfegruppe der Sorgen der verlorenen Generation an, die ihm im Unterricht gegenübersitzt. Sebastian Jakob Doppelbauer ist Lehrer Lange. Und er allein ist das Einschalten wert. Eine Figur, so schillernd wie eine Ölpfütze, auf die trübes Licht fällt.
Ein Zyniker, der immer kurz vor dem Ausbruch steht. Ein Wabenwesen, das vielleicht während der Pandemie irgendwo hängen geblieben ist, die Welt nicht mehr versteht, die er doch besser machen möchte, die das aber vielleicht gar nicht will. Wie Wetterleuchten huschen das Gute und das Entsetzliche, die sich im Innern dieses verirrten Philanthropen mischen wie zwei Explosivstoffe, über Doppelbauers Gesicht.
Teigig ist er. Und unsympathisch. Man will ihn hassen. Und kann es nicht. Und dann schlägt er eine Mutter zusammen, die ihm doof kommt. Man kann ihn fast verstehen. Die Mutter ist grässlich. Ihren Schläger von Sohn hatte er nach Hause geschickt nach einer Prügelei in der Schultoilette. Am Ende trägt Lange eine Sprengstoffweste ins Schulgebäude. Aber es ist alles anders, als es den Anschein hat.
Es herrscht eine gewaltige Verwaschenheit in dieser Geschichte. Vielleicht sucht die Kamera von Hanno Lentz deswegen so intensiv nach Konkretion, zoomt an Gegenstände heran, will sich irgendwo festhalten. Die einzige Kraft, an der Florian Oellers verwinkeltes Buch und Max Gleschinskis wunderbar rätselhafte Regie wirklich glauben, ist die der Bilder.
Lentz und Gleschinski gehen mit ihr in die Klüfte, die sich zwischen den Generationen auftun. In den Seelen der von der Pandemie Geschädigten, Verlorenen, der Heimatlosen, Aussichtslosen. Und sie bleiben bei ihrer Suchbewegung durch die Einsamkeiten auch der Ermittler diesmal vor allem bei Melly Böwe hängen und bei ihrem Chef Henning Röder.
Die Wärmestube von Rostock
Womit wir bei den nächsten beiden wären, für die sich die Gebühren an diesem Sonntag gelohnt haben. Lina Beckmann und Uwe Preuss sind Böwe und Röder. Und was die beiden da veranstalten, einen hochvirtuosen Bienentanz der distanzierten Zuneigung, ist verzaubert unmittelbar, ist ein Licht in dieser Dunkelheit. Wo sie sind in diesem Fall, ist die Wärmestube von Rostock.
Sie stricken weiter an Mellys horizontaler Erzählung. Dass sie einst vergewaltigt wurde, hatte sie bei einem Verhör während der letzten Ermittlung nebenbei fallen gelassen. Und dass bei dieser Vergewaltigung ihre Tochter Rose entstanden war. Die ist jetzt geflohen, hat den Kontakt abgebrochen, weil Melly ihr die Umstände ihrer Zeugung nicht nennen wollte und den Namen des Vaters nicht kannte. Röder findet heraus, wer es war.
Der Mann taucht plötzlich auf. Ein Finsterling, wie ihn nur Torsten Merten spielen kann (noch ein Grund, sich „Tu es!“ anzutun). Macht rätselhafte Dinge. Und ist – dessen immerhin ist man sicher am Ende dieses extrem verunsichernden Falls – gekommen, um als Tullius Destructivus dieses Sonntagskrimiablegers zu bleiben.
So viel Hoffnung jedenfalls, dass in Rostock der Regen aufhört, sich die Räume um die Menschen weiten und die Gegenwart lebenswerter wird, besteht am Ende nicht. Man braucht viel guten Tee, um „Tu es!“ zu überstehen.
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