Was Geist ist, meint Adorno, wird klar, sobald man mit geistlosen Leuten zu tun hat. Ähnlich der Geschmack. Die unwiderstehliche Macht des Geschmacks zeigt sich, sobald man mit Geschmacklosigkeit konfrontiert wird. Geist oder Geschmack: Wer über diese sphärischen Dinge schreibt, exponiert sich als einer, der beansprucht, souverän darüber zu verfügen, selbst geist- bzw. geschmackvoll zu sein. Wer dieses Risiko meistert, hat ein glanzvolles Buch geschrieben. Das ist Ulrich Raulff gelungen, dessen Geschichte des Geschmacks sich liest, als sei sie aus einem urbanen Französisch übertragen. Dass die Würdigung von Roland Barthes’ Theorie der Nuance am Ende steht, ist schlüssig.

Es sind mindestens vier kluge Entscheidungen, die neben der aphorismengesättigten Prosa die Gelungenheit des Buches sichern: Raulff widersteht erstens der Versuchung, eine Verfallsgeschichte zu schreiben. Wer sich nach Corona durch die Fifth Avenue quetscht, wird keineswegs Givenchy-Ladies erblicken, die mit Audrey Hepburn mithalten könnten, deren Epiphanie zu Beginn von „Frühstück bei Tiffany“ das Buch als Ikone guten Geschmacks eröffnet. Es gibt vielmehr Grausiges zu sehen, prall gefüllte Leggings, vom Gesäß rutschende Jogginghosen – Midtown als gigantisches Homeoffice und Amüsiermeile; der Schlips wurde atavistisches Alleinstellungsmerkmal, Camp zur entfesselten Schlamperei. Church’s gibt’s nicht, nur Flipflops an schrundigen Extremitäten. Auf die Einladung zur Weltklage antwortet Raulff gelassen mit Shakespeares Komödie: Wie es euch gefällt.

Raulff bietet eine „flache“ Theorie des Geschmacks, entwickelt aus der Unterscheidung zwischen Mögen und nicht-Mögen. Er richtet nicht, er flaniert von Winckelmann zu Vivienne Westwood, von der Pompadour zu Punk, vom Palais Royal zu den Sex Pistols, von Watteau zu Tracy Emins skandalöser Installation „My Bed (My Bad)“: „Kunst kennt keinen Tatortreiniger.“ Gefallen und Missfallen: Raulff zeichnet eine feine Phänomenologie der durch sublimierte Kindheitserfahrungen geprägten Grundimpulse. Ein heute 60-Jähriger mag Vintage-Teakmöbel auch, weil er 1970 als Kleinkind darunter mit Matchbox-Autos spielte.

Der sinnliche Ansatz materialästhetischer Studien – Geschmack ist Zungengeschmack, Schaulust, Tastwunsch – bestimmt den Parcours durch die Theoriedebatten, der, und das ist die zweite Maßnahme, nie staubig gerät: Winckelmann lehrt, dass wir uns nackt mit flüssigem Gips übergießen müssen, um einen Marmorgott zu verstehen, Burke entwickelt seine Ästhetik als sexuell geladener 23-Jähriger, der greise Diderot vermisst seinen alten Hausrock, fühlt sich in dem geschmackvoll neuen, den ihm eine adlige Verehrerin schenkt, wie eine Kleiderpuppe, Kant exorziert die Verführungen des platonischen Symposions, indem er nur zum Abendessen einlädt und den Einbruch des schönen Alkibiades durch Lampes Dienste ersetzt.

Bei Raulff bleibt präsent, dass Geschmack Sehnsucht ist: „Geschmack liebt die Materie und ist doch von anderer Natur; er ist liminaler Art“, Grenzgänger zwischen Seele und Leib, instabil, anfällig für die allmächtige Trias von Markt, Geschäft und Geld, Shopping-Trigger und Stimulanz sensitiver Philosophien, Figur des Verlangens und „Streithammel der Ideengeschichte“, der die Kritik als Genre mitproduziert, weil sich endlos zanken lässt, sinnlos und sinnvoll zugleich.

Wie kommt es, und die Antwort bildet die dritte Linie des Buches, zu Verdichtungen des Geschmacks, zu Trends und Stilen, wie entstehen die Tastemaker von Addison über Wedgwood bis Jacqueline Kennedy? Eine der Antworten, die Raulff gibt, besteht in der evolutionstheoretischen Deutung des transkulturellen Copy-and-paste: Materialien, Formen, Ornamente finden aus Fernost nach Europa, werden imitiert. Es kommt zu Mutationen, auch durch Fehler. Neues entsteht, das auf die Ursprungsländer zurückwirkt. An Schnittstellen komplexer Transfergeschichten stehen zuweilen Individuen wie Thomas Jefferson, der – als Architekt passionierter denn als Politiker – den Klassizismus in die Neue Welt transferiert und den antiken Tempel zum Plenarsaal umfunktioniert.

Die Spannung zwischen Shaftesbury und Shopping, Verlangen und Fragonard ernüchtert dieses Buch. Denn, und darin besteht die vierte Kardinalmaßnahme des Historikers, Raulff zelebriert seine Geschmacksgeschichte nicht als Ideengeschichte, sondern erdet sie kühl im Sinne des material turn, beschreibt Geschmack als Effekt auch harter Wirtschaftsinteressen und politischer Krisen, von der Sattelzeit zur Sesselzeit: Die alten Meister gelangen nach England, weil die französischen Adligen sie nach der Revolution von 1789 dorthin verkaufen müssen, die Farbexplosion des 19. Jahrhunderts ist Produkt moderner Chemie mit ihren Anilinfarben, England fördert in Konkurrenz mit Frankreich massiv Arts and Crafts, etabliert sich als dominierende Geschmacksnation auf der Londoner Weltausstellung von 1851.

Eine Geschichte des Geschmacks ist auch eine Geschichte der Gewalt, wie sich exemplarisch am Kapitel über die englischen Blumengärten zeigt, deren üppiger Bestand ein Archiv der vom Empire unterworfenen Länder des Globus bildet. Die bis heute erfolgreichen floralen Ornamente der Designs von William Morris sind auch Ausdruck eines „ästhetischen Imperialismus“. Gewaltgesättigte Transnationalität gilt selbst für deutsche Bauerngärten: Dahlien kommen aus Mexiko, Sonnenblumen aus Nordamerika, Fuchsien von Tahiti, Geranien aus dem südlichen Afrika.

Geschmack ist wohl „eine der besten Ideen, die die Europäer in den letzten drei Jahrhunderten gehabt“ haben. Ihren Umriss zeichnet Raulff im Lichte von Max Ernsts Kunstwerk „Europa nach dem Regen“ faszinierend nach, ohne ihren Schatten zu tilgen.

Ulrich Raulff: Wie es euch gefällt. Eine Geschichte des Geschmacks. C.H. Beck, 480 Seiten 36 Euro

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