Man kann sich das Schreiben eines Hochgeschwindigkeitsthrillers vielleicht vorstellen wie das Zusammensetzen eines hochpräzisen Chronometers. Der sitzt, ein literarischer Feinmechaniker, in einem geradezu penibel aufgeräumten Zimmer voller Bücher einsam an seinem Schreibtisch, sagen wir irgendwo nicht weit weg vom Berliner Tiergarten, zieht seine schwarzumrandete Brille auf die Nase, fischt aus seinem vor Schräubchen und Rädchen überquellenden Setzkasten allerlei heraus, das eigentlich jeder kennt.

Er schmirgelt, setzt zusammen. Und grinst breiter als jedes Raubtier dazu in der Lage wäre, wenn er es wieder geschafft hat, die großen Komplikationen des Trivialen, die im Thriller lauern, nicht nur zu vermeiden wie der Killer die Häscher, sondern in schlanke, in Blut getauchte Eleganz zu verwandeln.

So jedenfalls stellen wir uns Andreas Pflüger vor, als er – unweit des Berliner Tiergartens – an „Kälter“ schrieb. Andreas Pflüger war einer der wichtigsten deutschen Drehbuchautoren, erfand den Weimar-„Tatort“, schaffte es in das Werk des Sonntagabendkrimis so gefährliche Dinge einzubauen wie tiefsinnigen Humor. Nebenbei wurde er – ein Recherchemonster vor dem Herrn – Experte für die Geschichte des deutschen Geheimdienstes nach dem Krieg wurde. Und mehr oder weniger zwangsläufig zum deutschen Vertreter John le Carrés auf Erden. Zum Thriller-Gott der Suhrkamp-Kultur.

„Kälter“ ist die Geschichte der Luzy Morgenroth und der Achtziger. Morgenroth, damit geht es los, ist seit acht Jahren auf Amrum. Da ist nichts los für die Kampfmaschine, die sie eigentlich ist. Eine dunkle Göttin der Terror-Abwehr, des Personenschutzes. Ausgebildet vom Shin-Bet in Israel. Dann ist Luzys Fünfzigster. Ein Mann verschwindet von Bord einer Fähre. Ein Sturm zieht auf. Ein Trupp dunkler Gestalten landet auf der Insel.

Dann fallen Schüsse. Luzys Lieblingskollege stirbt. Und Luzy, wieder Kampfmaschine, steht dem gefährlichsten Terroristen der westlichen Welt gegenüber – war mal RAF, dann Stasi, dann KGB, dann hochdotierter Auftragsmörder. Eine deutsche Karriere. „Wahre Macht über Leben und Tod“, hat er Luzy mal gesagt, „wenn du dann und wann jemandem erlaubst, fürs Erste weiterzuatmen.“

Virtuose Sprachwut

Die Geschichte geht vor und zurück. In Zeitlupe. In irrwitziger Beschleunigung schlägt der Plot Haken. Nach Israel, nach Russland, nach Wien. Luzy ist Pflügers Zelig. Er packt sie auf der Jagd nach dem Schatten ihres Lebens in ein Pandämonium, das er aus akribisch ausgeforschter Historie und akribisch ausgetüfteltem Fantasialand mit virtuoser Sprachwut zusammengeschraubt hat.

Und immer wieder hört man ihn sardonisch lachen, das kann er gut, wenn er sich wieder selbst eine Komplikationsfalle gestellt hat, aus der eigentlich kein Autor lebend herauskommen kann. Und er es doch wieder schafft.

Einmal zum Beispiel, da begleitet Luzy in Jerusalem einen zwielichtigen Deutschen unendlich viele Stockwerke hoch zur Suite des (erfundenen) deutschen Wirtschaftsministers mit zwielichtiger Nazi-Vergangenheit, den sie schützen soll. Es ist Schabbat. Aus dem Foyer gellt Gloria Gaynors „I will survive“. Man will sich schon wegschmeißen vor Fremdscham. Was Pflüger dann aber veranstaltet, während der Aufzug nach oben fährt, ist ganz große Kunst.

„Kälter“ ist eine Zeitgeschichtskillermaschine. Der perfekte literarische Chronometer. Zum Verfilmen leider viel zu teuer. Jedenfalls in Deutschland.

Andreas Pflüger: Kälter. Suhrkamp, 495 Seiten, 25 Euro

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