Wir alle kennen diese Geschichte aus Dutzenden von schwarz-weißen Gruselfilmen: Eine junge Frau läuft durch einen dunklen Wald, ein haariges Monster ist hinter ihr her. Da – eine Lichtung, ein Haus, nein, eine Villa, warmes Licht strömt durch die Fenster. Atemlos pocht die Frau an die Tür. Ein Mann öffnet und lächelt freundlich, hinter ihm eine attraktive Frau. Die Frau bekommt Essen, Wein, ein armes Bad wird eingelassen; und plötzlich beginnt der Mann wölfisch zu grinsen, er ist genauso ein Ungeheuer wie jenes, vor dem die Frau geflohen ist, vielleicht steht er mit dem haarigen Monster dort draußen sogar im Bunde.
Victoria Giuffre (1983-2025), die bekannteste unter den Frauen, die Jeffrey Epstein und Ghislaine Maxwell zum Opfer fiel, hat diesen Alptraum (wie ihr postum erschienenes Buch „Nobody’s Girl“ klarmacht) nicht nur einmal, sondern sehr oft erlebt. Als sehr junges Mädchen – sechs, sieben, acht, neun Jahre alt – wurde sie von ihrem Vater sexuell missbraucht. Der Vater lieh sie auch an einen pädophilen Freund aus. Die Mutter wusste Bescheid, tat so, als wisse sie es nicht, betrachtete ihre Tochter als sexuelle Konkurrenz und war auf sie wütend.
Victoria, die sich niemandem anvertrauen konnte, betäubte ihren Schmerz mit Drogen: Sie wurde ein „schwieriger“ Teenager. Also wiesen ihre Eltern sie in Florida, wo die Familie lebte, in ein Sanatorium ein. Das Sanatorium, das „Growing Together“ heißt, existiert immer noch. Im Internet wird davor gewarnt, seine Kinder dorthin zu schicken: Es sei schmutzig, die Erzieher seien Sadisten. Victoria wurde nun also nicht mehr sexuell, aber sonst auf jede mögliche andere Art misshandelt. Mehrmals lief sie fort.
Mit 15 gelang ihr die Flucht. Aber der Mann, der sie als Anhalterin mitnahm, lockte sie in ein Hotelzimmer und vergewaltigte sie brutal. Wahrscheinlich wollte er sie danach umbringen, aber als sein Handy klingelte und er das Gespräch annahm, rannte sie davon. Verheult und blutend wurde sie von einem dicken, gemütlichen Mann in einer pompösen Limousine aufgelesen. Das Dumme war: Bei dem dicken Mann handelte es sich um Ron Eppinger, Inhaber eines Rings junger, slawischer Zwangsprostituierter.
Sie war arm
Sechs Monate lang war Virginia Giuffre seine Gefangene, dann verschenkte Eppinger sie an einen Freund. Als das FBI dessen Wohnung aufbrach, fanden die Agenten die immer noch minderjährige Victoria Giuffre nackt in seinem Bett. Ihr Vater las sie auf der örtlichen Polizeiwache auf und schlug sie ins Gesicht, weil sie eine Hure sei. Danach lebte sie eine Zeit lang auf der Straße.
Dann hatte ihr Vater einen tollen Job für sie: Victoria sollte auf Mar-a-Lago für Donald Trump arbeiten. An ihn hat sie eher gute Erinnerungen. Er lud sie in sein Büro ein und redete freundlich mit ihr. Aber auf Mar-a-Lago wurde Virginia Giuffre dann von Ghislaine Maxwell rekrutiert, der Freundin des hebephilen Serienvergewaltigers Jeffrey Epstein. Da war sie knapp 17, sie sah deutlich jünger aus, als hätte jemand ihre Lebensuhr angehalten.
An dieser Stelle sollten wir die Erzählung kurz unterbrechen und uns fragen: Wie ist so viel Unglück möglich, hat Victoria Giuffre es etwa magisch angezogen? Nein. Dunkle Magie spielte keine Rolle. Menschen, die als Kinder vergewaltigt wurden, fallen auch später oft sexueller Gewalt zum Opfer. Das gilt vor allem dann, wenn es sich bei den Tätern um Elternteile handelt: Die Kinder lernen in diesem Fall von früh auf, dass Liebe und Misshandlung zusammengehören. Sie halten sexuelle Gewalt für das Normale; so ist eben die Welt.
Hinzu kam, dass Victoria Giuffre arm war. Sie stammte nicht aus der Mittelklasse, wo sich vielleicht ein Team von Psychologen um sie gekümmert hätte. Sie strahlte aus, dass sie auf der Welt allein war. Der Gedanke, dass sie Rechte habe, war ihr fremd; das hatte ihr nie jemand gesagt.
Ghislaine Maxwell engagierte sie, um Jeffrey Epstein zu „massieren“. In Wahrheit wurde sie natürlich angelernt, mit den beiden zusammen Sex zu haben. Maxwell und Epstein nahmen sie mit nach Manhattan in sein beeindruckend düsteres Stadthaus. Sie nahmen sie mit nach Paris. Sie wurde per Privatjet auch auf Epstein berüchtigte Insel in der Karibik geflogen. Victoria Giuffres Buch macht deutlich, dass er sich nicht als ihren Vergewaltiger sah, sondern als ihren uneigennützigen Förderer: Bevor er und Ghislaine Maxwell sich an ihr vergingen, wurde sie in den Louvre mitgeschleppt.
Variante des Stockholm-Syndroms
Er hielt sich für einen Übermenschen, der dreimal pro Tag sexuelle Erlösung brauche. Und er rühmte sich seiner moralischen Prinzipien: Noch nie, sagte Jeffrey Epstein, habe er mit einem Mädchen geschlafen, ehe es seine erste Monatsblutung hatte.
Victoria Giuffre schont sich in diesem Buch nicht. Eindrucksvoll beschreibt sie jene spezielle Variante des Stockholm-Syndroms, das jugendliche Opfer sexueller Gewalt an den Täter bindet. Sie wurde auf unschuldige Weise mitschuldig: Nachdem Ghislaine Maxwell und Epstein ihren Willen gebrochen hatten, machte Giuffre sich selbst auf die Pirsch, um in Bars und Nachtclubs verletzliche Mädchen für ihn zu finden. Einige davon warnte sie aber auch.
Epstein lieh sie an Dutzende seiner Kumpane aus. Zwei davon nennt sie mit Namen: Mirvin Minsky, einen Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, und Prinz Andrew. Minsky ist mittlerweile tot, Prinz Andrew wurde von der königlichen Familie in Großbritannien verstoßen. Laut Virginia Giuffre sagte er nach stattgehabter sexueller Befriedigung: „Thank you.“ Ein Lump, wer Böses dabei denkt.
Rosarot grundiert
Dann war da noch jener Premierminister, der im Buch namenlos bleibt. Er war brutal: Nachdem er mit Giuffre fertig war, blutete sie aus Mund, Vagina, Anus. Sie hatte große Angst vor ihm. Wer könnte gemeint sein? Zu Epstein prominenten Freunden gehörte etwa der frühere israelische Premierminister Ehud Barak. Er war (wie in vielen israelischen Zeitungen gemeldet wurde) ein oft und gern gesehener Gast in Epstein Wohnung in Manhattan – und auf seiner Privatinsel. Dass Epstein in Florida seiner Sexualverbrechen wegen verurteilt wurde, hinderte ihn nicht daran, den Kontakt aufrechtzuerhalten; erst 2019 sagte sich Barak von Epstein los.
Immer wieder unterbricht Virginia Giuffre ihren Bericht, um idyllische Szenen aus ihrem Familienleben einzublenden. Es gelang ihr nämlich, sich von Epsteins Bann zu lösen, indem sie den Australier Robert Giuffre heiratete und mit ihm in den Vorort Glenning Valley in New South Wales zog. Sie hatte drei Kinder mit ihm, zwei Söhne und eine Tochter. Die Familienszenen in dem Buch sind rosarot grundiert wie auf einer Kitschpostkarte.
Das Vorwort der Journalistin Amy Wallace, die das Buch zusammen mit Virginia Giuffre geschrieben hat, stellt klar: Die Kitschpostkarten waren eine Lüge. Robert Giuffre hat Virginia Giuffre geschlagen, offenbar mehrfach; am Ende verbot er ihr per Gerichtsbeschluss den Kontakt mit den Kindern. Am 25. April dieses Jahres schied Virginia Giuffre freiwillig aus dem Leben. Dieser Selbstmord hatte gewiss mehrere Gründe – sie litt nach einer Operation und einem Verkehrsunfall unter chronischen Schmerzen –, aber ein Grund mag dieser gewesen sein: Für Giuffre hat der Alptraum nie aufgehört. Bis zum Schluss glich sie der jungen Heldin im Schwarz-Weiß-Film, die durch den dunklen Wald vor einem Monster flieht, ein hell erleuchtetes Haus erreicht und feststellt, dass dort schon das nächste Ungeheuer auf sie wartet.
Zum Abschluss etwas, das nicht im Buch steht: Virginia Giuffre war eine Unterstützerin von Donald Trump. Sie hoffte, dass er wiedergewählt würde – aus einem einzigen Grund: Trump hatte versprochen, alle Geheimakten über Jeffrey Epstein zu veröffentlichen. Selbstverständlich brach er dieses Versprechen sofort, als er an der Macht war. Dann sorgte er dafür, dass Ghislaine Maxwell – als einzige Sexualverbrecherin der Vereinigten Staaten – in ein äußerst komfortables Gefängnis verbracht wurde. Er denkt über eine Begnadigung nach. Derzeit weigert sich Mike Johnson, der Trump treu ergebene Sprecher des Repräsentantenhauses, Adelita Grijalva den Amtseid leisten zu lassen, eine Demokratin, die soeben eine Wahl in Arizona gewonnen hat. Ihre Stimme würde den Ausschlag geben, damit alle Dokumente zum Fall Epstein veröffentlicht werden; auch jene, die den Präsidenten belasten, der so oft in Epsteins Gegenwart fotografiert wurde.
Virginia Giuffre: Nobody’s Girl. A Memoir of Surviving Abuse and Fighting for Justice. Alfred A. Knopf, New York. 400 S., 35 Dollar. Die deutsche Übersetzung „Nobody's Girl. Meine Geschichte von Missbrauch und dem Kampf um Gerechtigkeit“ erscheint am 18. November 2025 bei Yes Publishing. Bereits am 23. Oktober wird das deutschsprachige E-Book erscheinen.
Hier finden Betroffene und Angehörige Hilfe: Haben Sie suizidale Gedanken, oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Wissen, Selbsttest und Adressen rund um das Thema Depression unter deutsche-depressionshilfe.de. Angehörige finden hier Hilfe: www.bapk.de
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.