Bei Thomas Bernhard und Werner Schwab lag immer etwas Skandalöses in der Luft. Ihre Theaterstücke waren Provokationen gegen eine verstockte Bürgerlichkeit und verlogene Öffentlichkeit. Ihre literarischen Waffen waren so bösartig, aggressiv und negativ wie das, was sie angriffen. Und heute?

Werden die einstigen Rebellen von einer Generation junger Regisseurinnen nur noch müde belächelt und dem Spott preisgegeben, wie man am Wiener Burgtheater sehen kann. Es ist das Zeichen einer tiefen Entfremdung. Von der jüngeren Theatergeschichte scheint man Lichtjahre entfernt zu sein. Mit Autoren wie Bernhard und Schwab kann – oder auch: will – man nichts mehr anfangen. Dass es auch anders geht, zeigt in Wien ausgerechnet ein alternder, ehemaliger Burgtheater-Direktor.

Möchte man maximale Distanz zu einer literarischen Vorlage markieren, muss man es machen wie Therese Willstedt in ihrer Inszenierung von Bernhards „Auslöschung“ am Burgtheater. Man stellt direkt zu Beginn das Buch auf den roten Teppich der riesigen Treppe, auf der verstreute Requisiten verteilt sind. Man macht sich den Text hier nicht zu eigen, sondern stellt ihn nur auf die Bühne, sodass das Ensemble in seinen hübschen braunen Kostümen immer wieder im Chor wie entschuldigend auf das Buch zeigen kann.

Als würde man sagen wollen: Sorry, aber das steht da echt so! Dieser Franz-Josef Murnau – einer von Bernhards „Geistesmenschen“, der an einer geistfeindlichen Umwelt leidet und das in einem zerstörerischen Monolog ausbreitet, der ihn am Ende selbst erfasst –, dieser Wüterich, dieser Alleszersetzer, dieser Zwanghafte: Das sind wir nicht.

Die große Geste der Distanzierung zieht sich durch den gesamten, immerhin fast drei Stunden langen Abend: Gespielt wird durchgehend in ironischer Überdrehtheit, alles wird ins Unernste gezogen – und dadurch zugleich harmlos, ja, belanglos. Selbst, wo es bei Bernhard um das Fortleben des Nationalsozialismus nach 1945 geht. Ein Zugang zum inneren Geschehen des Texts fehlt völlig.

So wundert es nicht, dass die Bühne zwar mit jeder Faser nach großer formaler Setzung schreit, aber doch nur auf verzagte Weise naturalistisch bespielt wird – wobei die meisten Requisiten sogar wie unnötiger Plunder einfach unbespielt liegen bleiben. Und dass am Text zielsicher das illustriert wird, was bei Bernhards Prosa sicher nicht das Interessante ist: die äußeren Vorgänge. Steht bei Bernhard, dass die Schwestern des Protagonisten hüpfen, hüpft auch das Ensemble.

Man stellt sich über den Text, man inszeniert an ihm vorbei, man will ihn vorführen. So wirkt es, was die 1984 geborene Willstedt mit Bernhard anstellt. Warum macht man ihn dann eigentlich, fragt man sich als Zuschauer. Mit Virginia Woolfs „Orlando“, ihrer vorigen Arbeit am Burgtheater, konnte Willstedt merklich mehr anfangen, da war das Distanzierungs- und Ironisierungsbedürfnis weniger ausgeprägt.

Dass man den Text auch heute noch ernster nehmen kann, zeigte der drei Jahre jüngere Julien Gosselin, als er mit seinem Abend „Auslöschung“ vor zwei Jahren in Wien gastierte. Der französische Regie-Star verknüpfte Bernhards Text – ein mitreißender Monolog von Rosa Lembeck – mit dem Sound des Fin de Siècle und dem Stil von Lars von Triers „Melancholia“.

Alles wie in Watte gepackt

Noch bunter und beschaulicher als bei „Auslöschung“ wird es bei „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“, ebenfalls im Burgtheater. Der Abend wirkt nicht wie von Werner Schwab, der mit seinen „Fäkaliendramen“ einst der „Nestroy der Punk-Generation“ genannt wurde, sondern wie von Wes Anderson, dem Pastellguru der Instagram-Generation. Alles ist wie in Watte gepackt: Keine Ecken, keine Kanten.

Das Gewalttätige – immerhin geht es in dem Stück um einen eskalierenden Kleinkrieg in einem Mietshaus, in den Familien und zwischen den Milieus, garniert mit Komasaufen, Kindesmissbrauch und weiteren Abscheulichkeiten – wird zur Farce, das Schauspiel zur Grimasse, die Sprache zur Persiflage. Nichts drängt sich auf, schon gar nicht aggressiv.

Man hat den Eindruck, einen emotionalen „Vibe Shift“ zu beobachten: Das Bösartige und Kaputte verliert im freundlichen Interieur alles Bedrohliche und Verstörende. Wer einst Rebell oder Außenseiter war – oder sich dazu stilisierte –, wird nun durch Veralberung gezähmt und domestiziert. Früher wollte man die Explosion der Affekte, heute nur seine Ruhe und emotionalen Detox. Das wirkt alles so brav und zutiefst gelangweilt.

Es wirkt, als ob negative Gefühle der jüngeren Regiegeneration wirklich wie historische Relikte aus einer fremden Kultur vorkommen, für die man nicht einmal mehr aufrichtiges ethnografisches Interesse aufbringen mag, sondern nur ein spöttisches Lächeln der psychohygienisch Hochtrainierten und Selbstoptimierten übrighat. Es ist wie eine andere Umlaufbahn der Leidenschaften, in der Unverständnis in einen überheblichen „Vorführeffekt“ mündet.

Dass in Wartenbergs Inszenierung das Bühnenbild um 90 Grad gekippt ist, sodass man als Zuschauer zwei Stunden lang mitfiebern darf, wie sich das tapfere Ensemble am Bügelbrett oder der Sofalandschaft festklammert, ist auch weit mehr formale Spielerei als der nötige Schuss Punk. In keinem Moment wird der Kokon des Ironischen, der in seiner alles abdämpfenden Wirkung die ästhetische Nichtbelästigung des Publikums garantiert, durchbrochen.

Nichts scheint weiter von Schwab – oder Bernhard – entfernt. Doch fügt es sich in das aktuelle Programm des Burgtheaters, das in Stefan Bachmanns zweiter Spielzeit ästhetisch auf eine von allen Ausbrüchen bereinigte, freundliche Mittelmäßigkeit zustrebt, die je nach Blickwinkel wunderbar in unsere sich nach Behaglichkeit sehnende Zeit passt oder im grellen Kontrast zu ihren realen Krisen steht.

Wie man die Auseinandersetzung mit der jüngeren Theatergeschichte auch führen kann, zeigt ausgerechnet der ehemalige Burgtheater-Direktor Matthias Hartmann bei seinem Wien-Comeback am Theater in der Josefstadt. Für Bernhards „Der Theatermacher“ hat er die Bestbesetzung in der Hauptrolle gefunden: Herbert Föttinger, seit 2006 der Leiter des Theaters in der Josefstadt, der gerade in seine letzte Spielzeit geht.

Klingt ein bisschen wie das letzte Aufgebot der alten Männer, um eine bedrohte Spezies zu retten, und ist doch weit mehr. Es ist der Versuch, Künstlerpersönlichkeiten wie Bernhard oder Claus Peymann, der vor 40 Jahren (und ein Jahr, bevor „Auslöschung“ veröffentlicht wurde) die Uraufführung von „Der Theatermacher“ besorgte, in ihrer Zeit zu verstehen.

Spiel am Rande des Zusammenbruchs

Hartmann, Jahrgang 1963, und Föttinger, Jahrgang 1961, sind selbst die Generation nach Bernhard, 1931 geboren, und Peymann, 1937 geboren. Die Überväter werden nicht nur im hellen Licht gezeichnet. Es gibt auch Schattenseiten dieser Theaterwahnsinnigen, wie allein das Bühnenbild zeigt, das diese Zweiteilung von Hell und Dunkel wortwörtlich nimmt.

Wie auch in verschiedenen Nachrufen auf den jüngst verstorbenen und im Burgtheater mit großem Pomp verabschiedeten Peymann, der allerdings in der Josefstadt bis zuletzt inszenierte und auf der Bühne stand, immer wieder anklang, ist die fanatische Hingabe an die Kunst gegen die Tyrannei der Wirklichkeit stets vom Umschlag in die Privattyrannei des Künstlers bedroht. Föttinger und Hartmann dürften sich da selbst noch verstrickt fühlen. Beiden wurde in der Vergangenheit ein ruppiger Umgang vorgeworfen, der in der Generation ihrer Theaterväter weit unumstrittener war als heute.

Die Distanzierungsposen der Jüngeren kann sich die Zwischengeneration nicht leisten, das würde schlicht unglaubwürdig wirken. Das allerdings schärft den Blick für die Widersprüchlichkeit von Bernhards Charakteren, wie dem egomanen Bruscon in „Der Theatermacher“. Föttinger spielt ihn nicht kraftstrotzend, sondern immer am Rande des Zusammenbruchs – und trotzdem fies und manipulativ.

Ein Beschädigter, der selbst Schaden anrichtet. Der in diesem heruntergekommenen Gasthof mit lange nach 1945 noch immer an den vergilbten Wänden hängenden Hitler-Porträts nicht ungebrochen das Bessere darstellt, sondern noch bis zum Hals im Schlechten steckt. Das war zu Bernhards Zeiten auch eine deutliche Kritik am Mythos der „Stunde Null“, der das unheimliche Weiterleben des Nationalsozialismus in der Demokratie zu verdecken half.

Hartmann und Föttinger kennen die gute, alte Theaterregel, auch dem größten Schuft auf der Bühne noch eine minimale Sympathie entgegenzubringen. Wie schuftig Bruscon ist, weiß man bis zum Ende nicht. Diese Ambivalenz, die das Zuschauen weit fesselnder macht als die Idealbilder einer geläuterten Nation oder moralisch einwandfreien Kunst, macht man sich hier zu eigen und albert sie nicht weg.

Am Ende räumt Hartmann die Bühne leer und zeigt, welche Gefühlswelten unter der historischen Kulisse zu vermuten sind: Verlorenheit, Orientierungslosigkeit, Dunkelheit. Paul Blackman choreografiert eindringliche, stumme Tanzszenen im Bühnennebel, die etwas vom Schatten der Vergangenheit erahnen lassen, der auch über dem Theater als Gegenbühne liegt. In seiner fast schon altertümlichen Ernsthaftigkeit weiß dieser Abend zu beeindrucken.

„Das Theater ist keine Gefälligkeitsanstalt“, heißt es in „Der Theatermacher“. Das klingt heute beinahe historisch – und muss dem Theater doch immer wieder aufs Neue abgetrotzt werden. Als Frank Castorf vergangenes Jahr Bernhards „Heldenplatz“ am Burgtheater inszenierte (unter Bachmanns Vorgänger und noch immer auf dem Spielplan), bemühte er sich nach Kräften, das Stück durch kräftige Kontrastmittel – die Faszination für Hitler-Deutschland in Texten von Thomas Wolfe und John F. Kennedy – nicht zur zahnlosen Österreich-Klamotte herunterkommen zu lassen.

So wurde das Publikum in die Unsicherheit gestürzt, mit welchem Blick man sich identifizieren könne, und jedem wahren Urteilen geht eine solche Unsicherheit voraus (was bei den jüngeren Theatermachern seltener zu beobachten ist). Im Theater geht man mit den Helden der Vergangenheit ins Gericht – doch jede Generation kommt zu einem anderen Schluss.

„Auslöschung“ und „Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos“ laufen am Wiener Burgtheater, „Der Theatermacher“ läuft am Theater in der Josefstadt.

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