Eine Nacht im Januar 1962. Ein Junge, zwölf, verpeilt, sich immer noch an einem Babyschnuller festsaugend, um seine Aufgeregtheit zu dämpfen, fliegt hochkant aus dem Kino, in das er sich geschlichen hat und macht sich zu Fuß auf den Heimweg. Es liegt Schnee und ist barbarisch kalt, doch dann liest ihn eine freundliche Familie auf. Sie wirkt wie aus einem Werbefilm: lächelnde Eltern, adrette Kinder, netter Smalltalk. Minuten später ist der Wagen ein Blutbad. Die Mutter gebiert ein Horror-Baby, Körper werden zerfetzt, die Idylle implodiert.
Mit dieser Szene eröffnet die HBO-Serie „Es – Welcome to Derry“, Andy Muschiettis Prequel zu seinen beiden hocherfolgreichen „Es“-Filmen von 2017 und 2019. Sie erzählt die Vorgeschichte von Stephen Kings Horrorclown Pennywise, aber stärker noch die Geschichte einer Stadt, die selbst den Schrecken zu produzieren scheint. Kings fiktives Derry war immer ein Seismograf amerikanischer Verdrängung – eine Kleinstadt, in deren unterirdischen Kanälen das Böse fließt. Die Serie versetzt diesen Alptraum in die frühen 1960er-Jahre und verbindet Kindheit, Rassismus, Kalter Krieg und kollektive Paranoia zu einem ambitionierten Spuk.
Vier Monate nach dem Verschwinden des Jungen trifft Major Leroy Hanlon in Derry ein, um seinen Dienst an der örtlichen Luftwaffenbasis anzutreten. Seine Frau Charlotte und der Sohn Will folgen bald; die Familie – eine der wenigen schwarzen in der Stadt – steht von Beginn an unter Beobachtung. Der Vater will nach seinem Einsatz im Koreakrieg „einfach nur Normalität“, doch in Derry ist Normalität ein anderes Wort für Verdrängung. Am Stützpunkt geschehen seltsame Dinge, es gibt Sperrzonen, in den Abwasserrohren flüstern Stimmen. Währenddessen schließen sich Will und ein paar andere Kinder – die traumatisierte Lilly, der misstrauische Ronnie, der nerdige Phil – zusammen, um herauszufinden, was mit Matty geschehen ist.
Das Muster ist vertraut: eine Gruppe Jugendlicher gegen ein namenloses Grauen, das die Erwachsenen nicht sehen wollen. Aber in „Welcome to Derry“ wird die Formel erweitert. Pennywise ist hier noch keine Figur, sondern eine Macht, die sich durch Angst ernährt. Die Serie verwebt Kings Motive mit den Neurosen der Kennedy-Ära: atomare Paranoia, Bürgerrechtsbewegung, militärische Hybris. Auf den Fernsehschirmen laufen die Proteste in den Südstaaten, während auf der Airbase ein General darüber nachdenkt, ob sich das Böse womöglich als Waffe einsetzen lässt.
Regisseur Andy Muschietti inszeniert das mit opulenter Gründlichkeit: blutige Schauwerte, schwindelerregende Kamerafahrten, grelle Körperhorror-Tableaus, manchmal barocker Überschwang. Muschietti hat ein gutes Gespür für Oberflächen. Seine Derry-Bilder sind klinisch schön, 60er-Jahre-Idyll in Pastellfarben. Wenn dann das Blut über den Boden läuft, wirkt es nicht wie Zerstörung, sondern wie das Hereinbrechen der Wahrheit: So sieht das Innere der amerikanischen Seele aus. Und wenn die Kinder durch Derry wie durch eine makellos gestrichene Kulisse laufen, in der alles glitzert und zugleich fault, ahnt man, dass hier nicht nur ein Monster sein Unwesen treibt, sondern eine ganze Kultur.
Der Coup besteht darin, dass das Böse nicht als metaphysische Entität, sondern als sozialer Aggregatzustand erscheint. Der Schrecken wächst aus der Stadt selbst, aus verdrängten Geschichten und ungesühnten Schuldverhältnissen. Das macht „Welcome to Derry“ nicht nur zu einem Horrorstück, sondern auch zu einer Kulturdiagnostik – ein Panorama der Angst als Alltagsform. Wo King das Böse noch in metaphysische Schwebe versetzte, macht Muschietti es messbar. Das funktioniert erstaunlich gut. Die Serie ist aufwendig gebaut, die Kinderdarsteller sind großartig, besonders Clara Stack als Lilly, deren Blick zwischen Trotz und Panik pendelt. Die Welt um sie herum ein Muster aus grellem Licht, kaltem Beton, Flüstern und Blut, alles wirkt, als hätte man die 60er-Jahre durch einen Alptraumfilter laufen lassen: Himmelblau, Chrom, rotes Blut auf weißem Schnee.
Natürlich wiederholt „Welcome to Derry“ vieles, was man schon kennt: den Kinderbund gegen das Ungeheuer, den Abstieg in die Kanalisation, die Idee, dass Erwachsene taub geworden sind für das Leid der Jungen. Doch gerade in dieser Wiederholung liegt eine eigentümliche Gegenwartsnähe. Was die Serie erzählt, ist auch ein Kommentar auf eine Welt, die wieder glaubt, mit Schrecken Politik machen zu können.
Das ist, je nach Blickwinkel, brillant oder überambitioniert. Die Serie will möglicherweise zu viel – Bürgerrechtsgeschichte, Body Horror, indigene Mythologie, Kindheitstrauma, Kalter Krieg. Sie versucht, das große amerikanische Nervensystem zu kartografieren, und stolpert dabei manchmal über die eigenen Ambitionen. Aber sie ist nie langweilig. Und unter all dem Splatter, den Dämonenbabys, den blutigen Spezialeffekten erzählt sie etwas, das fast prophetisch wirkt: dass Angst wieder zum Betriebssystem der Gesellschaft geworden ist. Der Schrecken von Derry ist zyklisch – alle 27 Jahre, sagt die Legende, kehrt er zurück. Wahrscheinlich, weil wir nichts dazulernen.
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